Elias Canetti

Banquet speech

Elias Canetti’s speech at the Nobel Banquet, December 10, 1981 (in German)

Eure Majestäten, Eure Königlichen Hoheiten, meine Damen und Herren,

Einer Stadt, die man kennt, verdankt man viel und einer, die man kennen möchte, wenn man sich lange vergeblich nach ihr sehnt, vielleicht noch mehr. Aber es gibt, glaube ich, im Leben eines Menschen auch besondere Stadtgottheiten, durch Drohung, Unermesslichkeit oder Verklärung ausgezeichnete Gebilde. Die drei, die es für mich waren, sind Wien, London und Zürich.

Man mag es dem Zufall zuschreiben, dass es diese drei sind, aber dieser Zufall heisst noch Europa, und soviel Europa vorzuwerfen wäre, – denn was ist nicht alles von ihm ausgegangen! – heute, da der Atemschatten, unter dem wir leben, schwer auf Europa lastet, zittern wir zuerst um Europa. Denn dieser Kontinent, dem sich soviel verdankt, trägt auch eine grosse Schuld und er braucht Zeit, um seine Sünden wiedergutzumachen. Wir wünschen ihm leidenschaftlich diese Zeit, eine Zeit, in der sich eine Wohltat nach der anderen über die Erde verbreiten konnte, eine Zeit, die so segensreich wäre, dass niemand auf der ganzen Welt Grund mehr hätte, den Namen Europas zu verfluchen.

Zu diesem verspäteten, zum eigentlichen Europa haben in meinem Leben vier Männer gehört, von denen ich mich nicht zu trennen vermag. Ihnen verdanke ich es, dass ich heute vor Ihnen stehe und ich möchte ihre Namen vor Ihnen nennen. Der Erste ist Karl Kraus, der grösste Satiriker der deutschen Sprache. Er hat mich das Hören gelehrt, die unbeirrbare Hingabe an die Laute Wiens. Er hat mich, was noch wichtiger war, gegen Krieg geimpft, eine Impfung, die damals für Viele noch notwendig war. Heute, seit Hiroshima, weiss jeder, was Krieg ist, und dass jeder es weiss, ist unsere einzige Hoffnung. – Der Zweite ist Franz Kafka, dem es gegeben war, sich ins Kleine zu verwandeln und sich so der Macht zu entziehen. In diese lebenslange Lehre, die die notwendigste von allen war, bin ich bei ihm gegangen. Den Dritten wie den Vierten, Robert Musil und Hermann Broch, habe ich in meiner Wiener Zeit gekannt. Robert Musils Werk fasziniert mich bis zum heutigen Tage, vielleicht bin ich erst seit den späten Jahren imstande, es ganz zu erfassen. Damals in Wien war erst ein Teil davon bekannt und was ich von ihm lernte, war das Schwerste: dass man ein Werk auf Jahrzehnte hin unternehmen kann, ohne zu wissen, ob es sich vollenden lässt, eine Waghalsigkeit, die hauptsächlich aus Geduld besteht, die eine beinahe unmenschliche Hartnäckigkeit voraussetzt. Mit Hermann Broch war ich befreundet. Ich glaube nicht, dass sein Werk mich beeinflusst hat, wohl aber erfuhr ich im Umgang mit ihm von jener Gabe, die ihn zu diesem Werk befähigt hat: diese Gabe war sein Atem-Gedächtnis. Ich habe seither über Atmen viel nachgedacht und die Beschäftigung damit hat mich getragen.

Es wäre unmöglich für mich, heute nicht an diese vier Männer zu denken. Wären sie noch am Leben, so stünde wohl einer von ihnen an meiner Stelle da. Betrachten Sie es nicht als Anmassung, wenn ich etwas ausspreche, worüber mir keine Entscheidung zukommt. Aber ich möchte Ihnen von Herzen danken und ich glaube, ich darf das nur, wenn ich zuvor meine Schuld an diese vier vor Ihnen öffentlich bekannt habe.

From Les Prix Nobel. The Nobel Prizes 1981, Editor Wilhelm Odelberg, [Nobel Foundation], Stockholm, 1982

Copyright © The Nobel Foundation 1981

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MLA style: Elias Canetti – Banquet speech. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Sun. 24 Nov 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1981/canetti/speech/>

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