Der Nobelpreis in Literatur 1998 – Pressemitteilung

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Die Schwedische Akademie
Der ständige Sekretär

Pressemitteilung
8. Oktober 1998

Der Nobelpreis in Literatur 1998

José Saramago

“der mit Gleichnissen, getragen von Phantasie, Mitgefühl und Ironie, ständig aufs Neue eine entfliehende Wirklichkeit greifbar macht”

Der Portugiese José Saramago wird im November 76 Jahre alt. Er ist Prosaschriftsteller mit einem Arbeiterhintergrund und erlebte seinen durchschlagenden Erfolg ernstlich erst in dem Jahr, als er sechzig Jahre alt wurde. Seither hat er große Aufmerksamkeit gefunden und wird fleißig übersetzt. Er lebt nunmehr auf den Kanarischen Inseln.

Saramagos “Handbuch der Malerei und Kalligraphie”, ein Roman der bereits 1977 erschien, hält einen Schlüssel für das, was kommen sollte, bereit. Im Grunde behandelt er die Geburt des Künstlers, des Malers wie des Schriftstellers. Großenteils kann man ihn als autobiographischen Roman lesen, aber in seiner Üppigkeit enthält er auch Liebesthemen, ethische Motive, Reiseeindrücke und Reflexionen über den Einzelnen und die Gesellschaft. Die Befreiung durch den Fall des Regimes Salazars im Jahre 1974 ist eine öffnende Schlußvignette.

Mit dem Roman “Das Memorial” erlebte er 1982 seinen Durchbruch. Es ist ein facettenreicher und vieldeutiger Text, der gleichzeitig eine historische, soziale und individuelle Perspektive enthält. Seine Fülle der Einsicht und sein Reichtum an Phantasie, die hier zum Ausdruck kommen, prägen überhaupt Saramagos Werk. Der Roman liegt der Oper “Blimunda” des italienischen Komponisten Corghi zugrunde.

Einer der Höhepunkte der Produktion Saramagos ist der Roman “Das Todesjahr des Ricardo Reis”, der 1984 erschien. Rein formal spielt er im Diktaturjahr 1936 in Lissabon, aber er hat eine geschickt hervorgerufene Stimmung der Unwirklichkeit. Sie wird noch durch die wiederholten Besuche des toten Poeten Fernando Pessoa bei dem Protagonisten (der aus Pessoas Produktion stammt) und durch ihre Gespräche über die Bedingungen des Daseins unterstrichen. Beim letzten Mal verlassen sie die Welt zusammen. Einen typischen Kunstgriff gebraucht der Verfasser in dem Roman “Das Steinfloß”, der 1986 erschien. Eine Reihe übernatürlicher Ereignisse findet ihren Höhepunkt darin, daß die iberische Halbinsel sich loslöst und sich auf den Atlantik hinausbewegt, anfangs mit Kurs auf die Azoren. Die von Saramago hervorgerufene Situation gibt ihm reiche Gelegenheit dazu, auf seine sehr persönliche Weise das Leben im Kleinen wie im Großen zu kommentieren und über Behörden, vielleicht ganz besonders die Machthaber der großen Politik, zu ironisieren. Saramagos Pfiffigkeit dient der Klugheit.

Es gibt allen Grund, auch die “Geschichte der Belagerung von Lissabon” aus dem Jahre 1989 zu nennen, einen Roman über einen Roman. Die Erzählung geht von einem nicht aus, das der Korrektor mutwillig hinzugefügt hat. Es ist ein Kunstgriff, der dem historischen Geschehen einen entgegengesetzten Verlauf gibt und gleichzeitig dem Erfindungsreichtum und der Erzählfreude des Verfassers viel Platz einräumt, ohne Tiefschürfendes zu verhindern.

“Das Evangelium nach Jesus Christus” aus dem Jahr 1991, der Roman über das Leben Jesu, enthält in seiner Freimütigkeit bedenkenswerte Reflexionen über große Fragen. Gott und der Teufel verhandeln über das Böse. Jesus stellt seine Rolle in Frage und fordert Gott heraus.

Ein Roman aus den letzten Jahren fügt etliches zu Saramagos literarischer Statur hinzu. Er erschien 1995 unterdem Titel “Die Stadt der Blinden”. Der allwissende Verfasser nimmt uns auf eine ungeheuerliche Fahrt durch die Grenzschicht mit, die durch die Wahrnehmungen der Menschen und zivilisatorische Seelenlager gebildet wird. Reichtum an Phantasie, Bizarres und Klarsicht kommen in diesem auf eine ungeheuerliche Art spannenden Werk zu ihrem Recht. “Soll ich dir sagen, was ich denke, Ja, Ich glaube nicht, daß wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen.”

Der letzte in dieser Reihe ist der Roman “Alle Namen”, der im Herbst in schwedischer Übersetzung erscheinen wird. Er handelt von einem untergeordneten Beamten in einem Standesamt von nahezu metaphysischen Dimensionen. Er wird von einem der Namen besessen und folgt der Spur bis zu ihrem tragischen Ende.

Saramagos eigensinnig entwickelte, vielbödige Romankunst verleiht ihm einen hohen Rang. In all seiner Selbständigkeit knüpft er an die Tradition auf eine Art und Weise an, die in der heutigen Situation als radikal bezeichnet werden kann. Seine Schriftstellerei erscheint als eine Reihe von Projekten, von denen das eine Projekt das andere mehr oder weniger bloßstellt, aber wobei alle neue Versuche darstellen, einer entfliehenden Wirklichkeit auf den Leib zu rücken.

The Swedish Academy

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MLA style: Der Nobelpreis in Literatur 1998 – Pressemitteilung. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Fri. 17 May 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1998/8076-jose-saramago-1998-4/>

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