Imre Kertész

Prose

2002 Nobel Laureate in Literature Imre Kertész reads an excerpt (in German) from his book “Roman eines Schicksallosen” (“Fatelessness”).

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Book cover

Excerpts from Roman eines Schicksallosen (Fatelessness)

(Seite 153 und 271-274)

Die Hauptsache ist, sich nicht gehenzulassen: irgendwie wird es schon werden, denn es ist noch nie vorgekommen, daß es nicht irgendwie doch geworden wäre – wie mir Bandi Citrom beibrachte, der diese Weisheit seinerseits im Arbeitsdienst gelernt hatte. Das allerwichtigste ist unter allen Umständen, sich zu waschen (parallel aufgereihte Tröge mit durchlöcherten Eisenrohren unter freiem Himmel, vorn, auf der zur Straße gehenden Seite des Lagers). Ebenso wichtig ist es, die Ration – daraufhin, ob es noch eine gibt oder nicht – sparsam einzuteilen. Vom Brot – so schwer uns diese strenge Selbstmaßregelung auch fallen mag – muß noch etwas zum Frühstückskaffee des nächsten Tages übrigbleiben, ja, ein Stück sogar – dank unbestechlicher Kontrolle unserer immer wieder Richtung Jackentasche wandernden Gedanken und vor allem unserer Hände – noch bis zur Mittagspause: so und nur so können wir zum Beispiel die quälende Vorstellung vermeiden, wir hätten nichts zu essen. Daß der zu unserer Garderobe gehörende Fußlappen kein Taschentuch ist, wie ich bis dahin irrtümlich angenommen hatte; daß beim Appell oder in der Kolonne immer nur die Mitte sicher ist; daß wir bei der Suppenausgabe nicht nach vorn, sondern nach hinten streben müssen, weil da schon vom Grund des Kessels und infolgedessen aus der Einlage geschöpft wird; daß wir den Stiel unseres Löffels auf einer Seite zu einem auch als Messer verwendbaren Werkzeug zurechthämmern können: das alles und noch viel mehr, lauter nützliche Dinge auf dem Gebiet des Gefangenendaseins, lernte ich von Bandi Citrom, sah es ihm ab und versuchte, es soweit wie möglich in ähnlicher Weise anzuwenden.

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Zunächst schien er einigermaßen unsicher. Tatsächlich – so hat er bemerkt – kämen «die Schrecklichkeiten erst jetzt wirklich an den Tag», und er fügte hinzu, daß «die Welt vorläufig verständnislos vor der Frage steht, wie, auf welche Art, das alles überhaupt geschehen konnte». Ich sagte nichts, und da hat er sich auf einmal ganz zu mir gewandt und gesagt: «Mein Junge, möchtest du nicht über deine Erlebnisse berichten?» Ich staunte ein bißchen und sagte, sehr viel Interessantes könnte ich ihm nicht erzählen. Da hat er ein wenig gelächelt und gesagt: «Nicht mir: der Welt.» Darauf staunte ich noch mehr und wollte wissen: «Aber worüber denn?» «Über die Hölle der Lager», antwortete er, worauf ich bemerkte, darüber könne ich schon gar nichts sagen, weil ich die Hölle nicht kenne und sie mir nicht einmal vorstellen kann. Aber er sagte, das sei bloß so ein Vergleich: «Haben wir uns denn», fragte er, «das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?», und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht. «Aber wenn nun doch?» drängte er, und nach ein paar weiteren Kreisen sagte ich: «Dann würde ich sie mir als einen Ort vorstellen, wo man sich nicht langweilen kann», wohingegen man das, so fügte ich hinzu, im Konzentrationslager könne, sogar in Auschwitz – unter bestimmten Voraussetzungen, versteht sich. Daraufhin schwieg er ein Weilchen, und dann fragte er, irgendwie aber schon widerwillig, wie mir schien: «Ja, und womit erklärst du das?», und da habe ich nach einigem Nachdenken gefunden: «Mit der Zeit.» «Was heißt das, mit der Zeit?» «Das heißt, daß die Zeit hilft.» «Hilft…? Wobei?» «Bei allem», und ich versuchte ihm zu erklären, wie es ist, an einem nicht gerade luxuriösen, im ganzen aber doch annehmbaren, sauberen und hübschen Bahnhof anzukommen, wo einem alles erst langsam, in der Abfolge der Zeit, Stufe um Stufe klar wird. Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht hat, sie hinter sich weiß, kommt bereits die nächste. Wenn man dann alles weiß, hat man auch alles bereits begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht untätig: schon erledigt man die neuen Dinge, man lebt, man handelt, man bewegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen einer jeden neuen Stufe. Gäbe es jedoch diese Abfolge in der Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf vielleicht gar nicht aus, und auch unser Herz nicht – so versuchte ich, es für ihn ein wenig zu beleuchten, worauf er aus seiner Tasche eine zerfledderte Zigarettenschachtel hervorklaubte und auch mir eine der zerknitterten Zigaretten hinhielt, die ich ablehnte, und nach zwei tiefen Zügen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, so, vorgebeugt und ohne mich anzuschauen, sagte er mit einer etwas klanglosen, dumpfen Stimme: «Ich verstehe.» Andererseits, fuhr ich fort, sei da gerade der Fehler, ich könnte sagen der Nachteil, daß man die Zeit auch irgendwie verbringen muß. Zum Beispiel habe ich – erzählte ich ihm – Gefangene gesehen, die schon vier, sechs oder auch zwölf Jahre im Konzentrationslager waren – oder genauer: noch da waren. Nun aber haben diese Menschen all die vier, sechs oder zwölf Jahre, das heißt im letzteren Fall zwölf mal dreihundertfünfundsechzig Tage, das heißt zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig Stunden, und noch weiter zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig mal… und das Ganze zurück, in Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen: also daß sie es von A bis Z irgendwie hinter sich bringen mußten. Wiederum andererseits, so fügte ich hinzu, mochte gerade das ihnen geholfen haben, denn wenn diese ganze, zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig mal sechzig mal sechzig genommene Zeit auf einmal, auf einen Schlag über sie hereingebrochen wäre, dann hätten sie es nicht ausgehalten – so wie sie es auf die Art eben doch ausgehalten haben -, dann hätten sie es weder körperlich noch geistig verkraftet. Und da er schwieg, habe ich noch hinzugefügt: «So ungefähr muß man es sich vorstellen.» Worauf er, in der gleichen Weise wie vorhin, nur jetzt statt der Zigarette, die er inzwischen fortgeworfen hatte, das Gesicht mit beiden Händen haltend, mit einer wohl dadurch noch dumpferen, erstickten Stimme sagte: «Nein, das kann man sich nicht vorstellen», und ich meinerseits sah das auch ein. Ich dachte bei mir: nun, das wird es wohl sein, warum sie statt dessen lieber von Hölle sprechen, wahrsheinlich.


Originalausgabe: Sorstalanság
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Copyright © Imre Kertész, 1975
Copyright © Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin, 1996
ISBN 3 87134 229 7
Book cover by Victoria Bergmark.
Courtesy Norstedts.

Excerpts selected by the Nobel Library of the Swedish Academy

To cite this section
MLA style: Imre Kertész – Prose. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Thu. 21 Nov 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2002/kertesz/prose/>

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