Orhan Pamuk – Nobelvorlesung

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7. Dezember 2006

Der Koffer meines Vaters

Zwei Jahre vor seinem Tod übergab mir mein Vater einen kleinen Koffer, der Texte von ihm enthielt, Manuskripte, Hefte. In dem spöttischen Ton, der ihm so eigen war, sagte er zu mir, ich solle doch nach seinem Tod diese Sachen einmal lesen.

„Dann kannst du ja sehen“, sagte er leicht verlegen, „ob irgend etwas Brauchbares darunter ist, das sich dann veröffentlichen ließe.“

Wir standen in meinem Arbeitszimmer, umgeben von Büchern. Als wolle er eine schmerzliche Last loswerden, ging mein Vater unschlüssig im Zimmer herum und wußte nicht so recht, wohin mit dem Koffer. Schließlich stellte er das Ding in seiner Hand in einem möglichst unauffälligen Eckchen ab. Kaum war dieser Moment beiderseitiger Peinlichkeit vorüber, da fanden wir auch schon erleichtert in unsere üblichen Rollen zurück und wurden wieder zu Menschen, die das Leben nicht allzu schwer nehmen und sich gerne darüber mokieren. Wir plauderten über dieses und jenes, über das ewige Einerlei der politischen Misere in der Türkei und über die Geschäfte meines Vaters, die mit schöner Regelmäßigkeit fehlschlugen.

Ich weiß noch gut, wie ich damals, nachdem mein Vater gegangen war, einige Tage lang an dem Koffer vorbeischlich, ohne ihn auch nur zu anzufassen. Ich kannte ihn ja schon aus Kindertagen, er war klein, schwarz, aus Leder und hatte abgerundete Ecken. Mein Vater benützte ihn, wenn er zu kleinen Reisen aufbrach oder etwas Größeres ins Büro zu transportieren hatte. Als Kind machte ich ihn manchmal auf, wenn mein Vater von einer Reise zurückkam, wühlte in den Sachen herum und war betört von dem Geruch nach Kölnisch Wasser und fremden Ländern. Dieser Koffer war mir ein wohlbekannter, reizvoller Gegenstand, der viel mit Vergangenheit und Kindheitserinnerungen zu tun hatte, und dennoch vermochte ich ihn nicht einmal zu berühren. Warum aber dies? Vermutlich lag es daran, daß der Kofferinhalt mir von geheimnisvoller Bedeutung schien.

Von dieser Bedeutung möchte ich hier nun sprechen. Davon nämlich, was ein Mensch betreibt, der sich in ein Zimmer zurückzieht, sich an einen Tisch setzt und versucht, mit Papier und Stift Zeugnis von sich abzulegen: Literatur.

Wenn ich es auch nicht über mich brachte, den Koffer zu öffnen, so waren mir doch einige der Hefte bekannt, die er enthielt, da ich meinen Vater darin hatte schreiben sehen. Überhaupt war mir die Art des Kofferinhalts nichts grundsätzlich Neues. Mein Vater besaß eine umfangreiche Bibliothek, hatte als junger Mann, gegen Ende der vierziger Jahre, in Istanbul Dichter werden wollen, hatte Paul Valéry ins Türkische übertragen, es aber schließlich nicht auf sich nehmen wollen, in einem rückständigen, an Lesern armen Land das harte Dasein eines Poeten zu führen. Mein Großvater war ein reicher Geschäftsmann gewesen, so daß mein Vater eine sorglose Kindheit und Jugend verbracht hatte und sich nicht um des Schreibens willen zu kasteien gedachte. Er liebte nun mal das Leben in all seiner Schönheit, und das verstand ich durchaus.

Was mich vom Inhalt des Koffers zunächst einmal fernhielt, war natürlich die Furcht, mir werde nicht gefallen, was dort zu lesen wäre. Mein Vater, dem dies bewußt war, hatte vorsorglich so getan, als nehme er selbst den Kofferinhalt nicht ganz ernst. Da ich zu jenem Zeitpunkt seit fünfundzwanzig Jahren Schriftsteller war, betrübte mich diese Einstellung. Andererseits konnte ich meinem Vater nicht böse dafür sein, daß er der Literatur nicht so viel Gewicht beimaß. Noch mehr aber fürchtete ich die Erkenntnis, mein Vater könne womöglich ein guter Schriftsteller gewesen sein. Was mich davon abhielt, den Koffer zu öffnen, war im tiefsten Grunde dies. Noch dazu konnte ich mir diesen Grund nicht eingestehen. Denn wäre aus dem Koffer meines Vaters echte, wahrhaftige Literatur zum Vorschein gekommen, so hätte ich in meinem Vater eine ganz andere Persönlichkeit sehen müssen. Das war ein furchtbarer Gedanke. Denn obwohl ich in fortgeschrittenen Jahren war, sollte mein Vater für mich nur mein Vater sein, und nicht etwa ein Schriftsteller.

Schriftsteller zu sein bedeutet für mich, daß man in sich selbst eine zweite, verborgene Persönlichkeit entdeckt und in jahrelanger geduldiger Mühe diese und ihr Umfeld sich herausschälen läßt. Und bei dem Wort Schreiben fallen mir nicht zuerst Romane, Gedichte und literarische Traditionen ein, sondern vielmehr der Mensch, der sich alleine an einen Tisch setzt, in sich hineinhorcht und mit Worten eine neue Welt erschafft. Dabei mag er eine Schreibmaschine verwenden, sich die Bequemlichkeiten des Computers zu Nutze machen oder, wie ich seit über dreißig Jahren, das Papier mit einem Füller beschreiben. Er kann dabei Kaffee oder Tee trinken, rauchen, sich hin und wieder vom Schreibtisch erheben und zum Fenster hinaussehen, auf draußen spielende Kinder, eine dunkle Mauer oder, wenn er Glück hat, auf Bäume oder eine schöne Aussicht. Er kann Gedichte schreiben, Theaterstücke oder wie ich Romane. All diese Unterschiede aber entfalten sich erst auf der Grundlage der eigentlichen Tätigkeit, nämlich der Tatsache, daß man sich an einen Tisch setzt und sich geduldig dem eigenen Inneren zukehrt. Schreiben bedeutet, daß man die innere Einkehr in Worte faßt, daß man aus sich heraus voller Geduld, Hartnäckigkeit und Freude an einer neuen Welt arbeitet. Wenn ich am Tisch sitze und auf eine leere Seite nach und nach Wort um Wort schreibe und darüber Tage, Monate, Jahre vergehen, dann fühle ich, daß ich eine neue Welt erstehen lasse und einen anderen Mensch aus mir heraushole, so wie man Stein auf Stein eine Brücke oder eine Kuppel baut. Der Stein des Schriftstellers ist das Wort. Wir nehmen das Wort in die Hand, befühlen es, setzen es mit anderen Wörtern in Zusammenhang, betrachten es manchmal aus der Ferne, fahren mit dem Finger oder dem Stift gleichsam streichelnd oder abwägend darüber, dann setzen wir es an seinen Platz, zäh, geduldig, hoffnungsfroh, über Jahre hinweg, neue Sphären erschaffend.

Das Geheimnis des Schreibens liegt für mich daher nicht in einer von irgendwoher kommenden Inspiration, sondern in Hartnäckigkeit und Geduld. Die schöne türkische Redensart „mit einer Nadel einen Brunnen graben“ könnte eigens für Schriftsteller geprägt worden sein. Seit jeher bewundere und begreife ich die Geduld des Märchenhelden Ferhat, der um der Liebe willen einen Berg durchbohrt. Als ich in dem Roman Rot ist mein Name von alten persischen Miniaturenmalern erzählte, die in jahrelanger leidenschaftlicher Übung immer wieder ein und dasselbe Pferd zeichneten, bis sie es schließlich auch mit geschlossenen Augen abbilden konnten, da war mir bewußt, daß ich eigentlich vom Beruf des Schriftstellers und von meinem Leben sprach. Um das eigene Leben allmählich als die Geschichte anderer Personen zu erzählen und in sich die entsprechende Erzählkraft zu verspüren, muß man, denke ich, dieser Kunst und diesem Handwerk geduldig viele am Schreibtisch verbrachte Jahre schenken und dabei einen gewissen Optimismus entwickeln. Die Muse, die manchem nie und manch anderem recht oft erscheint, liebt nämlich dieses Vertrauen und diesen Optimismus, und wenn der Schriftsteller sich gerade am allereinsamsten fühlt und am allermeisten an seinem Streben und Träumen und Schreiben zweifelt und meint, die Geschichte, an der er arbeitet, sei einzig und allein seine eigene Geschichte, dann kommt die Muse und schenkt ihm quasi all die Geschichten, Bilder und Vorstellungen, die er braucht, um das stetig aus ihm heraus Quellende mit der Welt zu verbinden, die er gerade ersinnt. Im Laufe meines ganz dem Schreiben gewidmeten Lebens hat mich am meisten berührt, daß beglückende Sätze, Seiten, Bilder manchmal nicht mir selbst entstammten, sondern mir von einer fremden Kraft großzügig zu Füßen gelegt wurden.

Ich traute mich nicht, den Koffer meines Vaters zu öffnen und seine Hefte zu lesen, denn ich wußte, daß mein Vater nicht die Einsamkeit liebte, sondern ganz im Gegenteil Geselligkeit, seinen Freundeskreis, Salongespräche und Scherze, so daß er den Mühen, denen ich mich unterzog, gänzlich abhold war. Dann aber kam ich auf einen anderen Gedanken: All diese Vorstellungen von Selbstkasteiung und Geduld konnten ja auch lediglich Vorurteile sein, die ich aus meiner ganz persönlichen Lebens- und Schreiberfahrung bezog. Schließlich gab es doch eine ganze Reihe von glänzenden Autoren, die umgeben von Freunden im munteren Familienkreise lebten und im Gemeinschaftsgefühl geradezu badeten. Und außerdem war mein Vater, als ich noch ein Kind war, vor den Niederungen des Familienlebens nach Paris geflohen und hatte dort in einem Hotelzimmer – wie viele andere Schriftsteller – Heft um Heft vollgeschrieben. Ich wußte, daß ein Teil dieser Hefte in dem Koffer enthalten war, denn bereits Jahre zuvor hatte mein Vater begonnen, mir von diesem Abschnitt seines Lebens zu erzählen. Schon in meiner Kindheit hatte er diese Jahre erwähnt, damals aber ohne von seiner Verletzlichkeit zu berichten, von seinem Wunsch, Dichter zu werden, oder der Identitätkrise, die er in Pariser Hotelzimmern durchlitt. Er erzählte vielmehr, wie er in den Straßen von Paris oft auf Sartre gestoßen war; und über die Bücher, die er damals gelesen und die Filme, die er gesehen hatte, sprach er mit der Leidenschaft von jemand, der eine wichtige Botschaft zu vermitteln hat. Daß ich selbst zum Schriftsteller geworden war, schuldete ich nicht zuletzt auch einem Vater, der zu Hause weit mehr von den Schriftstellern der Weltliteratur sprach als etwa von militärischen oder reli giösen Führern. Vielleicht mußte ich diese Hefte schon allein deswegen lesen, und auch wegen der umfangreichen Bibliothek meines Vaters, der ich nicht wenig zu verdanken hatte. Der Tatsache, daß mein Vater, während er mit uns zusammenlebte, genauso wie ich gerne in einem Zimmer mit seinen Gedanken und seinen Büchern alleine war, mußte ich daher Achtung zollen, ohne mich um die literarische Qualität seiner Schriften weiter zu kümmern.

Doch je länger ich hilflos auf den Koffer starrte, um so klarer wurde mir, daß ich genau das nicht zustande bringen würde. Wenn mein Vater auf dem Sofa vor seiner Bibliothek lag, ließ er manchmal sein Buch oder seine Zeitschrift sinken und verfiel in langes Denken und Träumen. Sein Gesicht nahm dann einen ganz anderen Ausdruck an als sonst, wenn er am familiären Scherzen, Necken und Zanken teilnahm, und hatte etwas ganz nach Innen Gewandtes, aus dem ich vor allem in jungen Jahren sorgenvoll schloß, meinen Vater müsse etwas bedrücken. Heute dagegen weiß ich, daß gerade diese Art von Bedrücktheit einer der Haupttriebe ist, die aus einem Menschen einen Schriftsteller machen. Um Schriftsteller zu werden, müssen wir – bevor noch Geduld und Leiden ihr Werk tun können – in uns den Drang verspüren, vor dem Leben in der Gemeinschaft, dem Alltag, dem Jedermannserleben wegzulaufen und uns allein in ein Zimmer zu sperren. Geduld und Hoffnung brauchen wir erst dann, damit unser Schreiben in tiefe Dimensionen reicht. Unser erster Antrieb aber ist der Wunsch, uns in ein Zimmer zurückzuziehen, ein Zimmer voller Bücher. Das schönste Beispiel für einen freien, unabhängigen Schriftsteller, der diese Bücher nach Gutdünken liest, mit ihnen Zwiesprache haltend auf die Stimme seines Gewissens lauscht und dann seine eigenen Gedanken faßt und seine eigene Welt herausbildet, ist natürlich Montaigne, der Begründer der modernen Literatur. Mein Vater war ein eifriger Leser Montaignes und empfahl ihn auch mir. Und so sehe ich mich auch heute in der Tradition jener Autoren stehen, die – wo immer auch in der Welt, sei es nun im Westen oder im Osten – sich von ihrer Gemeinschaft lösen und sich allein in ihre Kammer setzen.

So einsam, wie man vermuten könnte, sind wir dort aber nicht. Zur Seite stehen uns die Worte, die Geschichten, die Bücher von anderen, die literarische Tradition. Die Literatur ist meiner Ansicht nach das Wertvollste, was der Mensch geschaffen hat, um sich selbst zu verstehen. Menschlichen Gesellschaften, Stämmen, Völkern gelingt es in dem Maße, sich kulturell weiterzuentwickeln, in dem sie ihre Literatur ernst nehmen und auf ihre Schriftsteller lauschen, und bekanntlich ist es ein Vorbote dunkler, törichter Zeiten, wenn in einem Land Bücher verbrannt und Schriftsteller erniedrigt werden. Dabei ist Literatur nie die Angelegenheit einer einzelnen Nation. Der Schriftsteller, der sich zurückzieht und erst einmal eine Reise in sein Inneres antritt, wird dort im Laufe der Jahre eine Grundregel guter Literatur entdecken, und zwar, daß jene aus dem Talent besteht, unsere eigene Geschichte als die Geschichte anderer zu erzählen und die Geschichte anderer als unsere eigene. Und dazu brauchen wir als Ausgangspunkt die Geschichten und Bücher anderer Menschen.

Mein Vater verfügte über eine gut bestückte Bibliothek von etwa tausendfünfhundert Bänden, was auch für einen Schriftsteller mehr als ausreichend ist. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren hatte ich mich zwar noch nicht durch die ganze Bibliothek hindurchgelesen, doch war mir jedes einzelne Buch irgendwie vertraut, so daß ich etwa wußte, wo mich eher leichte oder tiefgründige Lektüre erwartete und ob ein Werk als Klassiker und unverzichtbarer Bestandteil der Weltliteratur galt oder als amüsantes, aber doch zu vernachlässigendes Zeugnis lokaler Begebenheiten, und auch, welche Bücher von einem französischen Autoren stammte, den mein Vater sehr schätzte. Manchmal stand ich sinnierend vor dieser Bibliothek und stellte mir vor, daß ich eines Tages eine ebensolche oder gar bessere besitzen und mir aus Büchern eine eigene Welt zimmern würde. Dabei kam mir die Bibliothek meines Vaters manchmal wie eine kleine Abbildung der Welt vor. Es war dies aber eine Welt, wie sie von Istanbul aus gesehen wurde. Gekauft hatte mein Vater die Bücher sowohl auf den Auslandsreisen, die ihn vor allem nach Paris und in die USA führten, als auch in seiner Jugend, in den vierziger und fünfziger Jahren, in den Buchläden in Istanbul, die damals fremdsprachige Literatur führten, und später in den alten und neueren Istanbuler Buchhandlungen, die auch ich alle kenne. In den siebziger Jahren begann ich selbst dann ernsthaft, mir eine eigene Bibliothek zusammenzustellen. Ich hatte damals noch nicht ganz beschlossen, Schriftsteller zu werden, ahnte jedoch – wie in meinem Buch Istanbul geschildert – , daß aus mir kein Maler werden würde, und wußte somit nicht recht, wohin mein Weg mich führen sollte. Zum einen verspürte ich in mir eine unbezähmbare Neugierde auf alles mögliche, eine Lesewut und einen übermäßig optimistischen Wissensdrang, zum anderen aber kam es mir so vor, als würde in meinem Leben etwas „fehlen“, als würde ich es nicht so leben können wie manch anderer. Das hatte zum Teil wohl damit zu tun, daß ich damals – wie auch beim Betrachten der Bibliothek meines Vaters – ziemlich deutlich empfand, fern vom Zentrum des Geschehens zu sein, so wie ja auch Istanbul uns in jenen Jahren vermittelte, daß wir eigentlich in der Provinz lebten. Der Gedanke, daß irgend etwas „fehle“, wurde außerdem dadurch genährt, daß mir nur allzu bewußt war, in einem Land zu leben, das einem Künstler, sei er nun Maler oder Schriftsteller, keine sonderliche Beachtung schenkte und ihm auch keinerlei Hoffnungen machte. Als ich mich in den siebziger Jahren, gleichsam um über diesen gespürten Mangel hinwegzukommen, mit dem Geld meines Vaters gierig daran machte, bei Altbuchhändlern vergilbte und verstaubte Bücher zu kaufen, war ich von der Armut, dem Durcheinander und der Hoffnungslosigkeit der am Straßenrand, in Moscheehöfen und an halb verfallenen Mauern etablierten Verkaufsstände kaum weniger beeindruckt als von der Lektüre jener Bücher selbst.

Sowohl das Leben als auch die Literatur vermittelten mir damals das Grundgefühl, „nicht im Zentrum zu stehen“. Es gab im Zentrum der Welt ein Leben, das reichhaltiger und lebenswerter war als das unsere und von dem ich wie alle Istanbuler und überhaupt alle Türken von vornherein ausgeschlossen war. Heute denke ich, daß der überwiegende Teil der Welt dieses Gefühl genauso empfand wie ich. Es gab außerdem eine Weltliteratur und deren ebenfalls weit von mir entferntes Zentrum. Eigentlich meinte ich mit Weltliteratur damals die westliche Literatur, und wir Türken waren auch von ihr ausgeschlossen. Die Bibliothek meines Vaters bestätigte mir das nur. Sie bestand zum einen aus heimischer Literatur und Büchern über Istanbul, in deren Details ich mich auch heute noch mit unvermindertem Behagen verliere, und zum anderen aus Bänden der westlichen Literatur, die der unseren so gar nicht ähnelte, was uns Anlaß zu Betrübnis, aber auch zu Hoffnung gab. Lesen und schreiben bedeutete, aus der einen Welt herauszutreten und in der wundersamen Verschiedenheit der anderen einen Trost zu finden. Ich fühlte, daß mein Vater – so wie später ich selbst – manchmal einen Roman vor allem deshalb las, um sich aus seinem eigenen Leben heraus in den Westen zu flüchten. Es kam mir auch so vor, als ob Bücher etwas seien, mit dem man über ein kulturelles Mangelgefühl hinwegzukommen sucht. Nicht nur das Lesen, sondern auch das Schreiben stellte eine Methode dar, um aus unserem Istanbuler Leben in den Westen zu gelangen. Die meisten Hefte in dem Koffer stammten aus der Zeit, als mein Vater zum Schreiben ganz bewußt nach Paris gefahren war und sich in ein Hotelzimmer eingeschlossen hatte, um erst das Ergebnis seiner Arbeit in die Türkei zurückzubringen. Als ich so vor dem Koffer stand, merkte ich, daß auch das mich unangenehm berührte. Nachdem ich mich fünfundzwanzig Jahre lang in mein Zimmer zurückgezogen hatte, um in der Türkei als Schriftsteller bestehen zu können, kam nun beim Anblick dieses Koffers in mir ein Unmut dagegen auf, daß ein Schriftsteller, um so zu schreiben, wie es ihm beliebt, sich vor der Gesellschaft, dem Staat, der Nation quasi verstecken muß. Vielleicht war ich gerade deswegen meinem Vater dafür böse, daß er das Schreiben nicht so ernst genommen hatte wie ich.

Eigentlich verübelte ich ihm, daß er nicht so lebte wie ich, daß er nie um irgendeiner Sache willen eine Auseinandersetzung riskiert hätte und lieber im Kreise seiner Freunde und in Harmonie mit der Gesellschaft ein von Lachen und Scherzen erfülltes Leben führte. Irgendwie wurde mir ja auch schmerzlich bewußt, daß ich ihm genau genommen das nicht „verübelte“, sondern ihn vielmehr beneidete. Damals fragte ich mich nämlich immer auf meine spröde, unwirsche Art, worin denn eigentlich das Glück bestehe. Ist glücklich, wer allein in seinem Zimmer hockt und meint, ein intensives Leben zu führen? Oder vielmehr jener andere, der unter Menschen geht und das glaubt, was sie glauben, oder zumindest so tut und ruhig dahinlebt? Und wenn man aller Welt in Harmonie verbunden scheint, sich dann aber hinsetzt und heimlich schreibt, ist das dann Glück zu nennen oder eher Unglück? Es waren dies jedoch zu ungestüme Fragen. Woher wollte ich denn auch wissen, ob Glück überhaupt als Maßstab unseres Lebens diene? Die Leute, die Presse, alle taten immer, als sei es so und nicht anders. Lohnte es nicht gerade deshalb, einmal zu untersuchen, ob es sich nicht genau umgekehrt verhalte? Wie weit kannte ich überhaupt meinen Vater, den es doch immer von seiner Familie fortgetrieben hatte, und was wußte ich schon von dem, was ihn womöglich plagte?

Diese Fragen waren der erste Antrieb, der mich schließlich dazu brachte, den Koffer zu öffnen. Gab es im Leben meines Vaters irgendeinen Kummer, von dem ich nicht wußte, irgendein Geheimnis, das nur durch Schreiben zu bewältigen war? Kaum war der Koffer auf, da entströmte ihm der typische Reisegeruch. Ich erkannte gleich einige der Hefte wieder, die mein Vater mir Jahre zuvor einmal beiläufig gezeigt hatte. Einzeln nahm ich jedes in die Hand, die meisten stammten erwartungsgemäß aus der Zeit, als mein Vater uns als junger Mann in Istanbul zurückgelassen hatte und nach Paris gefahren war. Mir ging es nun so wie mit meinen Lieblingsschriftstellern, deren Biographien ich las: Ich wollte auch bei meinem Vater wissen, was er in meinem Alter gedacht und geschrieben hatte. Schon bald aber stellte ich fest, daß ich auf solches Material so schnell nicht stoßen würde. An den Texten, die ich hie und da ein wenig anlas, befremdete mich außerdem ein gewisser Ton, den ich nicht als den Ton meines Vaters erkannte. Er klang nicht authentisch oder gehörte zumindest nicht zu der Person, die mir als mein authentischer Vater galt. Es steckte da eine Furcht in mir, die mich noch mehr bedrückte als das Gefühl, mein Vater könne als Schriftsteller nicht mein Vater sein. Meine grundsätzliche Furcht vor dem Nicht–Authentischen war schlimmer als die Befürchtung, die Texte meines Vaters mißlungen zu finden oder festzustellen, daß mein Vater sich zu sehr von diesem oder jenem Schriftsteller habe beeinflussen lassen. Vor allem in jüngeren Jahren wuchs sich diese Furcht zu einer wahren Authentizitätskrise aus, die mich meine ganze Existenz, mein Leben, meinen Schreibwunsch und meine Texte beständig hinterfragen ließ. In meinen ersten zehn Jahren als Romanautor empfand ich sie besonders intensiv, kämpfte fortwährend dagegen an und hatte Angst, daß es mir eines Tages so gehen würde wie mit der Malerei und ich auch das Schreiben wegen solcher Erwägungen einmal aufgeben würde.

Damit sind die beiden Grundgefühle angesprochen, die der Koffer in mir auslöste: zum einen das Gefühl des Provinzialismus und zum anderen die Sorge um die Authentizität. Natürlich war es nicht das erste Mal, daß ich dergleichen empfand. Ich hatte diese Gefühle in all ihren Ausprägungen, ihren Nebeneffekten und ihrer farblichen Vielfalt bis in ihre Nervenenden und Verknotungen hinein durch jahrelanges Lesen und Schreiben analysiert, seziert und vertieft. Vor allem in jüngeren Jahren hatte ich sie als unbestimmte Seelenschmerzen und stimmungsverderbende Empfindlichkeiten kennengelernt, als Verwirrungen, die hin und wieder aus Leben und Literatur auf mich einströmten. Eine echte Auseinandersetzung damit fand aber erst statt, als ich jene Gefühle literarisch verarbeitete (die Provinzialität in Schnee und in Istanbul, die Sorge um die Authentizität in Rot ist mein Name und im Schwarzen Buch). Schriftsteller zu sein, bedeutet für mich somit auch, die geheimen Wunden, die wir in uns tragen und von denen wir höchstens in Ansätzen wissen, zu erkennen, uns geduldig damit auseinanderzusetzen, sie herauszuarbeiten und sie zu einem ganz bewußten Teil unseres Schreibens und unserer Persönlichkeit zu machen.

Schreiben bedeutet ferner, etwas auszudrücken, was jeder weiß, ohne zu wissen, daß er es weiß. Wir entdecken dieses Wissen, entwickeln es weiter, teilen es mit anderen und vermitteln damit dem Leser den Genuß, sich in einer wohlvertrauten Welt dennoch voller Erstaunen zu bewegen. Diesen Genuß bezieht der Leser aus unserem Talent, alles, was wir wissen, in seiner ganzen Wahrhaftigkeit in einen Text zu gießen. Der Schriftsteller, der in seinem Zimmer durch jahrelange Übung dieses Talent entfaltet und eine eigene Welt zu formen sucht, geht dabei von seinen eigenen Wunden aus und bringt damit bewußt oder unbewußt den Menschen ein tiefes Vertrauen entgegen. So habe ich stets darauf gezählt, daß auch andere Menschen die gleichen Wunden in sich tragen wie ich und ich deshalb verstanden werde. Jegliche wahre Literatur baut auf dem kindlichen Urvertrauen auf, daß die Menschen sich gleichen. Und wer sich jahrelang zurückzieht und schreibt, der wendet sich an diese Menschheit und an eine Welt ohne festes Zentrum.

Wie jedoch aus dem Koffer meines Vaters und natürlich auch aus den verblaßten Farben unseres Istanbuler Lebens hervorgeht, gibt es sehr wohl ein Zentrum der Welt, das weit von uns entfernt ist. Auf das Provinzgefühl, das man wegen dieser Grundgegebenheit oft auf Tschechowsche Weise erlebt, und auf die Authentizitätsangst, die als ihr Nebenprodukt auftritt, bin ich in meinen Büchern oft eingegangen. Ich weiß auch aus eigenem Erleben, daß der größte Teil der Weltbevölkerung diese Gefühle teilt und sich auch mit gravierenderen Phänomenen wie Diskriminierung und Furcht vor Erniedrigung herumschlägt. Selbstverständlich besteht die Hauptsorge der Menschheit nach wie vor im Problem der Nahrung und Behausung. Davon aber künden heute das Fernsehen und die Presse viel schneller und leichter als die Literatur. Was die Literatur heute in erster Linie erzählen und erforschen sollte, das ist der Menschheit grundsätzliches Problem, nämlich Minderwertigkeitsgefühle, die Furcht, ausgeschlossen und unbedeutend zu sein, verletzter Nationalstolz, Empfindlichkeiten, verschiedenste Arten von Groll und grundsätzlichem Argwohn, nicht enden wollende Erniedrigungsphantasien und damit einhergehend nationalistische Prahlerei und Überheblichkeit. Diese Phantasien, die meist auf irrationale und überschwängliche Weise ausgedrückt werden, verstehe ich nur allzu gut, sobald ich ins Dunkel meiner eigenen Seele blicke. In der außerwestlichen Welt, mit der ich mich ohne weiteres identifizieren kann, können wir immer wieder beobachten, daß die Empfindlichkeit von Menschenmassen und ganzen Völkerschaften sich in Befürchtungen niederschlägt, die geradezu an Dummheit grenzen. In der westlichen Welt wiederum, mit der ich mich nicht weniger leicht identifiziere, führen Reichtum sowie der Stolz darauf, an der Wiege von Renaissance, Aufklärung und Moderne gestanden zu haben, bisweilen dazu, daß man sich mit ähnlicher Einfalt viel zu viel auf sich einbildet.

Nicht nur mein Vater, sondern jeder von uns nimmt also den Gedanken von einem Zentrum der Welt zu ernst. Dabei ist ja das, was uns zum Schreiben in die Einsamkeit treibt, ganz im Gegenteil ein Gefühl des Vertrauens, nämlich der Glaube daran, daß das, was wir schreiben, eines Tages auch gelesen und verstanden wird, weil die Menschen auf der ganzen Welt ähnlich strukturiert sind. Es ist dies aber – und das weiß ich aus meinen und meines Vaters Texten – ein gedämpfter, vom Ingrimm über ein Außenseiterdasein angekränkelter Optimismus. Die Haßliebe, mit der Dostojewski sein Leben lang dem Westen begegnete, habe auch ich mitunter verspürt. Doch habe ich bei dem Dichter eine Lektion gelernt, die mich positiv stimmt, denn wenn Dostojewski auch von dieser Haßliebe ausging, so schuf er doch eine weit darüber hinausgehende Welt.

Wer dem Schreiben sein Leben widmet, der weiß genau, daß die Welt, die er aus welchen Gründen auch immer in jahrelanger hoffnungsvoller Arbeit kreiert, sich danach oft ganz anders verortet, als man dies erwartet hatte. Mögen wir uns auch voller Kummer oder Wut an den Schreibtisch gesetzt haben, wir gelangen dennoch über Kummer und Wut hinaus in eine andere Dimension. Konnte nicht auch meinem Vater das gelungen sein? Wenn man nach langer Reise in einer solchen Welt eintrifft, hat man das gleiche Gefühl, ein Wunder zu erleben, wie wenn sich nach langer Seefahrt eines Tages durch den Dunst hindurch das Schauspiel einer farbenprächtigen Insel entfaltet. Westliche Reisende mochten ähnlich empfinden, wenn sie mit dem Schiff von Süden her auf Istanbul zufuhren und sich allmählich der Morgennebel lichtete. Voller Hoffnung und Neugier waren sie zu der Reise aufgebrochen, und nun, nach langer Überfahrt, stand ihnen plötzlich eine Stadt, eine Welt vor Augen, mit ihren Moscheen und Minaretten, Häusern, Straßen, Gassen, Hügeln, Brücken. So wie sich ein begeisterter Leser gerne in den Seiten eines Buches verliert, so mochten diese Menschen den Wunsch hegen, augenblicklich in die vor ihnen erscheinende Welt einzutauchen. Und haben wir uns an den Tisch gesetzt, weil wir in der Provinz waren, am Rande, wütend oder einfach melancholisch, so haben wir eine völlig neue Welt entdeckt, die uns diese Gefühle vergessen läßt.

Im Gegensatz zu früher ist für mich heute Istanbul das Zentrum der Welt, und zwar nicht nur deshalb, weil ich hier fast mein ganzes Leben verbracht habe, sondern auch, weil ich seit dreiunddreißig Jahren die Straßen, die Brücken, die Menschen, die Hunde, die Moscheen, die Brunnen, die seltsamen Helden, die Läden, die bekannten Persönlichkeiten, die wunden Punkte, die Tage und Nächte dieser Stadt beschreibe und mich stets mit alledem identifiziere. Die Vorstellungen, die ich dabei habe, entwickeln ein Eigenleben und werden in meinem Kopf wichtiger als die Stadt selbst, in der ich wohne. Dann scheint es, als ob alle Menschen und Straßen, alle Dinge und Gebäude miteinander zu sprechen begännen und Beziehungen einzugehen, von denen ich nichts wußte, so als lebten sie nicht in meiner Vorstellung und meinen Büchern, sondern eigenständig und ganz für sich alleine. Und die Welt, die ich geduldig ersonnen habe, so wie man „mit einer Nadel einen Brunnen gräbt“, kommt mir dann wirklicher vor als alles andere.

Nun, dachte ich beim Betrachten des Koffers möglichst vorurteilsfrei, vielleicht sind die Freuden des unverdrossen schaffenden Schriftstellers ja auch meinem Vater zuteil geworden. Nicht zuletzt war ich ihm dafür dankbar, daß er nie ein strenger und strafender Vater gewesen war, nie ein Unterdrücker, und daß er mir stets meine Freiheiten gelassen und meine Persönlichkeit geachtet hatte.

Meiner Fantasie kindhaft freien Lauf zu lassen, war mir vielleicht nur deshalb möglich, weil ich im Gegensatz zu den meisten meiner Freunde ohne Angst vor dem Vater großgeworden war, und manchmal war ich auch überzeugt, daß ich nur deshalb Schriftsteller werden konnte, weil mein Vater es einst hatte auch werden wollen. So mußte ich also nachsichtig an diese Texte herangehen und versuchen, sie zu verstehen.

Derart gewappnet öffnete ich endlich den Koffer, der seit Tagen am gleichen Fleck stand, entnahm ihm einige Hefte und begann unter Aufbietung meines ganzen Willens zu lesen. Was mein Vater geschrieben hatte? Ich kann mich an Beschreibungen von Hotelzimmerblicken erinnern, an Gedichte, Aporien, Syllogismen… Ich fühle mich nun wie jemand, der nach einem schweren Verkehrsunfall nicht genau weiß, was ihm passiert ist, und es so genau auch gar nicht wissen will. Wenn in meiner Kindheit die Eltern am Rande eines Streits waren und wieder einmal tödliches Schweigen ausbrach, schaltete mein Vater immer sofort das Radio an, und die Musik ließ uns das Vorgefallene schneller vergessen.

Die Funktion dieser Musik sollen jetzt ein paar launige Worte erfüllen, mit denen ich das Thema wechsle. Wie Sie wissen, lautet die Lieblingsfrage an Schriftsteller: Warum schreiben Sie eigentlich? Nun, ich schreibe, weil ich Lust dazu habe! Ich schreibe, weil ich nicht wie die anderen eine normale Arbeit machen kann. Ich schreibe, weil ich Ihnen und allen anderen sehr böse bin. Ich schreibe, weil ich gerne den ganzen Tag schreibend auf meinem Zimmer sitze. Ich schreibe, weil ich die Wirklichkeit nur ertrage, wenn ich sie verändern kann. Ich schreibe, weil die ganze Welt wissen soll, was wir, ich und die anderen, in Istanbul , in der Türkei für ein Leben führen. Ich schreibe, weil ich den Geruch von Stift und Tinte liebe. Ich schreibe, weil ich an nichts so sehr glaube wie an die Literatur und den Roman. Ich schreibe, weil es mir Gewohnheit und Leidenschaft geworden ist. Ich schreibe, weil ich fürchte, vergessen zu werden. Ich schreibe, weil es mir Ruhm und Anteilnahme bringt. Ich schreibe, um allein sein zu können. Ich schreibe, um herauszufinden, warum ich Ihnen und allen anderen so böse bin. Ich schreibe, weil es mich freut, gelesen zu werden. Ich schreibe, weil ich einen Roman, einen Artikel, eine Seite angefangen habe und nun fertigbekommen will. Ich schreibe, weil das jeder von mir erwartet. Ich schreibe, weil ich in kindlicher Manier an die Unsterblichkeit von Bibliotheken und an meine Bücher in ihren Regalen glaube. Ich schreibe, weil das Leben, weil die Welt, weil einfach alles unglaublich schön und überraschend ist. Ich schreibe, weil es Freude macht, diese Schönheit und diesen Reichtum in Worte zu fassen. Ich schreibe, weil ich eine Geschichte nicht erzählen, sondern erschaffen will. Ich schreibe, um das Gefühl loszuwerden, daß es irgendwo einen Ort gibt, an den ich – wie in einem Traum – niemals gelangen kann. Ich schreibe, weil ich nicht glücklich sein kann. Ich schreibe, um glücklich zu sein.

Eine Woche, nachdem mein Vater den Koffer in meinem Arbeitszimmer gelassen hatte, kam er mich wieder besuchen, wie immer (ungeachtet meiner achtundvierzig Jahre) mit einer Tafel Schokolade in der Hand. Und wie immer sprachen und scherzten wir über alles mögliche, über Politik, über Familiengeschichten. Da fiel der Blick meines Vaters auf die Stelle, an der er seinen Koffer abgestellt hatte; der Koffer war nicht mehr da. Wir sahen uns an. Es entstand ein peinliches Schweigen. Ich sagte nicht, daß ich den Koffer geöffnet und in den Heften gelesen hatte, und wandte den Blick ab. Er verstand jedoch, und das verstand ich, was wiederum er verstand. Das ging so hin und her, aber nur ein paar Sekunden lang, denn mein Vater war ein glücklicher Mensch voller Selbstvertrauen und tat somit, was er immer tat: Er lachte. Und als er wieder ging, sagte er mir wie jedesmal väterlich aufmunternde Worte.

Ich sah ihm noch hinterher, wie stets voller Neid auf sein unbeschwertes, lebensfrohes Wesen. Doch weiß ich noch, daß sich an jenem Tag in mir auch ein schmähliches Glücksgefühl regte. Es war, wie sich denken läßt, das Gefühl, vielleicht nicht so ein ruhiges, sorgloses Leben geführt zu haben wie er, stattdessen aber den Anforderungen der Literatur genügt zu haben. Ich schämte mich für dieses Gefühl. Hatte mein Vater mir doch, statt mir als Unterdrücker zum Lebensmittelpunkt zu werden, stets meine Freiheit gelassen. All dieses lehrt uns, daß das Schreiben und die Literatur zutiefst mit einem Mangel in unserem Innersten sowie mit Glücks- und Schuldgefühlen verbunden sind.

Meine Geschichte hat aber noch einen zweiten, symmetrischen Aspekt, an den ich mich an jenem Tag erinnerte, und zwar erst recht voller Schuldgefühl. Mit zweiundzwanzig hatte ich beschlossen, alles andere sein zu lassen und Schriftsteller zu werden, hatte mich vier Jahre lange eingeschlossen und schließlich meinen ersten Roman Cevdet Bey und seine Söhne fertiggeschrieben, und danach – also dreiundzwanzig Jahre, bevor mein Vater bei mir seinen Koffer abstellte – war ich mit dem getippten Manuskript des noch unveröffentlichten Buches zu meinem Vater gegangen, hatte es ihm mit zitternden Händen übergeben und ihn um seine Meinung dazu gebeten. Diese war mir sehr wichtig, und zwar nicht nur, weil ich auf seinen Geschmack und seine Intelligenz vertraute, sondern auch, weil er im Gegensatz zu meiner Mutter gegen meinen Berufswunsch nichts einzuwenden hatte. Mein Vater war daraufhin eine Weile unterwegs, und ich wartete ungeduldig auf seine Rückkehr. Als er zwei Wochen später wiederkam, lief ich zur Tür, um ihm zu öffnen. Mein Vater sagte nichts, umarmte mich aber gleich so herzlich, daß mir klar war, wie sehr ihm das Buch gefallen hatte. Eine Zeitlang standen wir uns dann überwältigt von unseren Gefühlen stumm und verlegen gegenüber. Als wir uns einigermaßen gefaßt hatten, brachte mein Vater auf überschwängliche Weise zum Ausdruck, wie sehr er an mein erstes Buch glaubte, und sagte schließlich, eines Tages werde ich bestimmt jenen Preis gewinnen, den ich jetzt hier mit großer Freude in Empfang nehmen werde.

Er sagte das weniger, weil er wirklich daran glaubte oder um mir den Preis als ein Ziel zu setzen, sondern eher wie ein türkischer Vater, der seinen Sohn mit den Worten „Aus dir wird mal ein General!“ motiviert. Jahrelang aber wiederholte er seinen Spruch jedesmal, wenn er mich sah, um mich eben zu ermutigen.

Im Dezember 2002 verstarb mein Vater.

Sehr verehrte Mitglieder der Schwedischen Akademie, die Sie mir diesen Preis und diese große Ehre zugesprochen haben, sehr verehrte Gäste, ich hätte sehr gewollt, daß mein Vater heute unter uns wäre.

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Copyright © The Nobel Foundation 2006

To cite this section
MLA style: Orhan Pamuk – Nobelvorlesung. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Tue. 19 Mar 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2006/pamuk/25295-orhan-pamuk-nobelvorlesung/>

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