Rudolf Eucken – Nobel Lecture

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Nobel Lecture, March 27, 1909


 

Naturalismus oder Idealismus?

Die Erfahrung der Menschheit zeigt gewisse Fragen, die uralt sind und die zugleich sich immer wieder erneuern: uralt sind sie, weil alle Ge­staltung des Lebens eine Antwort über sie in sich trägt, neu werden sie immer wieder, weil die Verhältnisse, an denen jene Gestaltung hängt, sich unablässig verschieben, ja an Wendepunkten so sehr verändern, dass zu einer offnen, die Geister verwirrenden und entzweienden Frage wird, was langen Zeiten als sichere Wahrheit galt.

Eine derartige Frage bildet der Gegensatz des Naturalismus und des Idealismus, der uns heute beschäftigen soll. Die Wörter haben durch übergrossen Gebrauch alles schärfere Gepräge eingebüsst, sie rufen man­ches Missverständnis hervor und halten sich nur durch den Vorteil der Bequemlichkeit, den solche eingebürgerte Schlagwörter haben; alle Unzu­länglichkeit der Ausdrücke kann aber nicht den grossen Gegensatz ver­dunkeln, der hinter ihnen steht, und der die Menschen schroff entzweit. Es handelt sich bei ihm um unsere Stellung im Ganzen der Wirklichkeit und um die Aufgabe, die damit zur Beherrscherin unseres Lebens wird, es handelt sich um die Frage, ob der Mensch ganz und gar der Natur angehört, oder ob er sich zu irgendwelchem Mehr, zu einem we­sentlichen Mehr ihr gegenüber erheben kann. Darüber nämlich sind wir heute einig, dass der Mensch den engsten Zusammenhang mit der Natur besitzt, und dass er diesen Zusammenhang durchaus nicht aufgeben darf; darüber aber lässt sich streiten und wird aufs härteste gestritten, ob sein ganzes Dasein, ob all sein Ergehen und Tun durch solchen Zusammen­hang bestimmt wird, oder ob darüber hinaus ein andersartiges Leben in ihm durchbricht und eine neue Stufe der Wirklichkeit einführt; jenes ist das Bekenntnis des Naturalismus, dieses das des Idealismus, es muss sich ihnen damit auch das Ziel wie die Art des Handelns grundverschieden gestalten. Denn wo alles Mehr des Menschen eine blosse Erschleichung und Einbildung dünkt, da gilt es alles aufs gründlichste auszutreiben, was menschliche Meinungen und Einrichtungen davon enthalten, es gilt die Fäden mit der Naturumgebung möglichst enge zu knüpfen und den Naturcharakter des Menschenlebens zu höchster Reinheit auszubilden; da­mit scheint das Leben zu seiner echten Grundlage zurückgeführt, von der es sich mit Unrecht und zu schwerem eignen Schaden losriss. Wo da­gegen im Menschen etwas Neues gegenüber der Natur anerkannt wird, da stellt sich die Aufgabe dahin, dies Neue zu kräftigster Entfaltung zu bringen und es von der Natur möglichst deutlich abzuheben, da wird das Leben seinen Hauptstandort in diesem Neuen suchen und von hier aus auch das Bild der Natur entwerfen. Dieser Gegensatz dürfte seinen greif­barsten Ausdruck in der verschiedenen Schätzung und Behandlung finden, die hier und dort das seelische Leben erfährt. Auch die Natur hat teil an diesem Leben, und wie es sich bei ihr gestaltet, so reicht es weit auch in das menschliche Dasein hinein. Aber dies natürliche Seelenleben ist eine blosse Begleiterscheinung, ein blosser Anhang des materiellen Natur­prozesses, es ist nicht mehr als ein Mittel und Werkzeug zur Erhaltung des physischen Lebens; was dem einen Tier die Körperkraft, die Schärfe der Sinne, die Schnelligkeit der Bewegung leistet, dafür dient dem an­deren eine stärkere Entwicklung seelischen Lebens in Klugheit und List. Aber auch bei höchster Steigerung hat dies Leben keine Aufgabe und keinen Inhalt bei sich selbst, auch bleibt es an ein Nebeneinander einzel­ner Punkte zerstreut und schliesst sich, so weit wir sehen, nicht zu einer inneren Gemeinschaft des Lebens zusammen, es bildet nicht eine eigen­tümliche Innenwelt. So kann auch das Handeln nie auf einen inneren Stand, sondern nur auf das Lebenerhaltende, das Nützliche gehen. Auf dieses Mass muss der Naturalismus, sofern er seiner Grundbehauptung treu bleibt, auch das menschliche Leben reduzieren. Der Idealismus da­gegen verficht ein Selbständigwerden der Innerlichkeit, eine Verbindung der einzelnen Lebenserscheinungen zu einer allesumfassenden Innenwelt; er verlangt zugleich für das, was sich hier an eigentümlichen Werten und Zielen in Wahrem, Gutem und Schönem eröffnet, die Herrschaft über das menschliche Leben; die Unterordnung alles menschlichen Strebens unter die Zwecke der Nützlichkeit dünkt ihm eine unerträgliche Erniedrigung, eine völlige Preisgebung alles dessen, was die Grösse und Würde des Menschen ausmacht. Wo die Hauptrichtungen so weit auseinandergehen, ja sich so direkt widersprechen, da entfällt augenscheinlich alle Möglichkeit einer Vermittlung, da ist eine Entscheidung zwischen einem schroffen Entweder-Oder zu treffen.

Nun ist unleugbar bei dieser Frage die Gegenwart bei sich selbst zerfallen, sie ist es aber vornehmlich, weil im eignen Bestände des Lebens sich tiefe Wandlungen vollzogen haben, die das Problem in eine neue Be­leuchtung rücken. Jahrtausendlange Ueberlieferung hatte uns gewöhnt, das Streben vorwiegend auf eine unsichtbare Welt zu richten und nur durch die Beziehung darauf, nur durch die Leistung dafür dem sichtbaren Dasein einen Wert beizumessen. So galt der mittelalterlichen Denkart als das Vaterland des Menschen eine jenseitige Welt, während das Diesseits zu einer Fremde, zu einem blossen Durchgangspunkte sank; es liess sich von uns nicht durchschauen, es gab uns nichts Grosses zu tun, es hielt uns nicht bei sich fest. Einer solchen Gesinnung erschien leicht die Natur als eine niedere Sphäre, mit der sich näher zu befassen gefährlich sei. Als Petrarca den Mont Ventoux bestiegen hatte und von der Pracht der Alpen hingerissen war, da erwachten in ihm ernstliche Zweifel, ob solches Entzücken am Geschaffenen nicht ein Unrecht gegen den Schöpfer, ein Raub an der ihm allein gebührenden Verehrung sei; so flüchtete er sich zum Kirchenvater Augustin, um die Sicherheit der religiösen Stimmung wiederzufinden.

Wie sehr hat sich das alles geändert, wie viel mehr ist uns das un­mittelbare Dasein, die Welt der Erfahrung geworden, wie vieles wirkt zu­sammen, um sie uns zur vollen Heimat zu machen! Die Führerin dieser Bewegung aber ist die Naturwissenschaft. Sie hat uns zur Natur in ein unvergleichlich engeres Verhältnis gebracht, sie hat aus diesem Verhält­nis unzählige neue Antriebe hervorgehen lassen, die unser Leben nicht nur im Einzelnen vielfach bereichern, sondern auch im Ganzen wesentlich verändern. Die ältere Denkweise sah die Natur durch das Medium einer spekulativen und subjektiven Betrachtung, sie schlang um die Wirklich­keit ein Netzwerk menschlicher Begriffe und Formeln, sie vermochte den sinnlichen Eindruck nicht zu zerlegen und drang daher nicht zum eignen Bestände der Dinge vor; auch blieb ihre Anerkennung gewisser Regel­mässigkeiten in der Natur weit entfernt von der Ermittlung mathema­tischer Naturgesetze, wie sie zuerst dem genialen Kepler gelang. Mit der Durchleuchtung der Natur fehlte aber zugleich das Vermögen, ihre Kräfte in den Dienst des Menschen zu ziehen und zur Förderung seines Wohls zu verwerten, es war weniger überlegene Einsicht als der Zufall, welcher einzelne technische Erfindungen gelingen liess; im grossen und ganzen blieb der Mensch der Natur gegenüber im Stande der Wehrlosigkeit; wie ungeschickt, wie ohnmächtig war in dieser Hinsicht noch die Zeit vor hundert Jahren, der grosse Dichter und Denker innerlich einen so hellen Glanz verliehen, wie viel Zeit verstrich mit der Bewältigung äusserer Wi­derstände, wie schwerfällig war das Reisen, wie mühselig der briefliche Gedankenaustausch! In allen diesen Beziehungen sind Wandlungen einge­treten, wie die Weltgeschichte sie bis dahin auch nicht annähernd kannte. Was seit dem Beginn des I7ten Jahrhunderts an aufhellenden Gedanken in der Naturwissenschaft lag, das hat das itjte Jahrhundert zu voller Durchbildung und sicherer Herrschaft gebracht; indem die Forschung den Naturprozess in seine einzelnen Fäden zerlegte und bis auf kleinste Ele­mente zurückverfolgte, indem sie weiter in den Gesetzen einfachste Wirk­formen dieser Elemente ermittelte und an ihnen einen festen Halt gewann, indem sie endlich mit Hilfe der Entwicklungsidee das Getrennte wieder ver­band und das Ganze vor unserem geistigen Auge entstehen liess, wurde die Natur uns unvergleichlich näher gebracht, und liess sie uns ihr Weben und Walten vom Grunde her miterleben. Zugleich aber zeigte die Entwick­lungslehre den Menschen durch immer mehr Fäden mit diesem Naturpro­zess verknüpft; je mehr er sich von ihm aus verstand, desto klarer schien ihm sein eigenes Wesen zu werden.

Hand in Hand mit der Wandlung der Begriffe ging eine Wandlung des praktischen Lebens. Indem nämlich technisches Geschick das Ergeb­nis der Forschung ergriff und mit Herstellung neuer Verbindungen zur Förderung unseres Wohles wandte, ward das Gesamtverhältnis des Men­schen zu seiner Umgebung verändert. In früheren Zeiten galt seine Lage in der Welt als im wesentlichen festgelegt und aller Wandlung entzogen; mochte ein dunkles Schicksal, mochte der Wille Gottes jene bereitet haben, der Mensch hatte sie hinzunehmen, wie er sie fand; wohl konnte und sollte er das Leid in den einzelnen Fällen lindern, dem Gesamtstande des Leides war er nicht gewachsen, und er konnte weder daran denken, das Elend in der Wurzel auszurotten, noch daran, das Leben wesentlich reicher und freudiger zu gestalten. Der Neuzeit dagegen hat sich mehr und mehr die Ueberzeugung befestigt und in fruchtbare Arbeit umge­setzt, dass wenn die Menschheit sich nur zu gemeinsamer Arbeit verbin­det, sie den Gesamtstand zu heben, die Unvernunft aus unserem Be­reiche mehr und mehr zu vertreiben, unser Dasein allmählich in ein Reich der Vernunft zu verwandeln vermag. Der Mensch darf sich in dem allen als ein siegreicher Eroberer, ja als ein Schöpfer fühlen; wohl zeigt der jeweilige Augenblick sein Vermögen begrenzt, aber der Augenblick ist nur ein Glied in der langen Kette der Zeiten; vieles, was früher durch­aus unmöglich schien, hat sich später als möglich erwiesen, überraschende Wendungen haben wir selbst erlebt, man sieht nicht, was dieser vor­dringenden Bewegung endgültige Grenzen setzen könnte. Durch alle solche Leistungen ist das unmittelbare Dasein dem Menschen unvergleich­lich mehr geworden; ebenso durch seine Erfolge wie durch seine Probleme zieht es ihn immer mächtiger an sich, hält es ihn immer zwingender fest.

Was immer aber die Arbeit in dieser Richtung wirkt, das erhält eine besondere Spannung durch die soziale Idee mit ihrem Verlangen, die Er­gebnisse des Strebens nicht nur einem kleinen Kreise Auserwählter, son­dern allen Einzelnen, allem, was Menschengesicht trägt, zuzuführen. Da­mit entstehen völlig neue Ausblicke und Aufgaben, welche einen gewal­tigen Aufwand von Kraft verlangen; es ergeben sich freilich zugleich schwere Verwicklungen und schroffe Gegensätze, aber auch sie steigern die Bedeutung und die Leidenschaft des hierher gerichteten Wirkens. In all diesen Wandlungen wird das Leben immer mehr zur Arbeit an der Um­gebung, nur in der Berührung mit den Dingen um uns scheint es volle Kraft und Realität zu erlangen; der Mensch braucht in diesen Zusammen­hängen sich nicht mehr zu unsichtbaren Welten zu flüchten, um hohe Ziele zu finden und in volle Tätigkeit zu kommen.

Das alles bildet eine grosse Tatsache unbestreitbarer Art; dass das Verhältnis zur sinnlichen Umgebung und damit diese selbst uns unver­gleichlich mehr geworden ist, das kann keinem Zweifel unterliegen; jede Weltanschauung und jede Lebensgestaltung wird diese Tatsache anzuerken­nen und sich anzueignen haben. Aber über jene Tatsächlichkeit hinaus geht die Behauptung des Naturalismus weiter dahin, dass der Mensch ganz und gar in das Verhältnis zur Umgebung aufgehe, dass er ganz und gar ein blosses Stück des Naturprozesses werde, und das ist etwas we­sentlich anderes, das will auf seine Berechtigung sorgfältigst geprüft sein. Ist es doch eine alte Erfahrung der Geschichte, dass wenn grosse Wend­ungen eintreten und das bisherige Gleichgewicht erschüttern, sie leicht das Urteil stürmisch fortreissen und den Blick für alles andere trü­ben; mit dem reinen Tatbestande verwebt sich dann leicht die Tendenz des Menschen mit all ihrer Wehrlosigkeit gegen Irrtum und Le idenschaft; zur dringlichen Aufgabe wird es alsdann, jenen echten Tatbestand von menschlicher Deutung und Zutat abzulösen. Eine solche Prüfung muss sich auch der Naturalismus gefallen lassen, wenn er, das Tatsächliche zum Prinzipiellen steigernd, die engere Verbindung des Menschen mit der Um­gebung das Ganze seines Lebens bestimmen lässt und alle Grössen und Masse danach gestaltet.

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Das Hauptbedenken gegen jene Absteckung des menschlichen Lebens erwächst nicht aus subjektiver Reflexion, sondern aus der Analyse der modernen Bewegung selbst, aus der deutlichen Herausstellung des geistigen Vermögens, das jene durch ihr Aufkommen und ihr Vordringen erweist; sowohl die intellektuelle und technische Bewältigung der Natur als die praktisch-soziale Arbeit zeigt, innerlich angesehen, eine völlig andere Art des Lebens, als der Mensch, als ein blosses Naturwesen verstanden, sie aufbringen könnte; sie zeigen ihn eben in der Annäherung an die Natur ihr wesentlich überlegen. Wäre der Mensch ein blosses Stück der Natur, der Natur, wie sie sich der exakten Forschung darstellt, so würde sein Dasein ein blosses Nebeneinander einzelner Vorgänge, alles Leben müsste aus der Berührung mit der Umgebung hervorgehen und an solcher Berührung haften, die sinnliche Gebundenheit wäre in keiner Weise zu überschreiten. Für irgendwelches Wirken aus dem Ganzen und von einer überlegenen Einheit her, für einen inneren Zusammenhang des Lebens wäre hier nicht der mindeste Platz; auch müssten alle Werte und Ziele entfallen, und alles Geschehen in reiner und blosser Tatsächlichkeit ver­laufen. Nun zeigt aber die Erfahrung der menschlichen Arbeit ein völlig anderes Bild.

Die moderne Naturwissenschaft ist nicht aus einer allmählichen An­häufung von sinnlichen Eindrücken hervorgegangen, sondern sie entstand in einem schroffen Bruch mit dem Ganzen des überkommenen Befundes; dieser Bruch ward als notwendig erkannt, weil die bisherige Fassung als viel zu anthropomorph erschien, und eine wissenschaftliche Begreifung der Natur nur bei Anerkennung ihrer vollen Selbständigkeit, ihrer Unabhängig­keit vom Menschen möglich dünkte. Diese Selbständigkeit konnte aber die Natur in unseren Begriffen nicht erlangen, ohne dass das Denken sich von den sinnlichen Eindrücken losriss, der Umgebung frei gegenübertrat und unter Auseinanderlegen und Wiederzusammenfassen eine gründliche Umwandlung des ersten Bildes vollzog. Es trieb aber zu solcher Umge­staltung vor allem ein Verlangen nach Wahrheit, ein Drang, sich in die Gegenstände selbst zu versetzen und damit ein inneres Weitwerden des Lebens zu gewinnen. Wie Hess sich aber in solcher Weise das Bild der Natur von der subjektiv-menschlichen Empfindung und auch von aller Zufälligkeit des betrachtenden Individuums befreien und in seinen eignen Verhältnissen erfassen, ohne dass das Denken ein selbständiges Wirken gegenüber der sinnlichen Empfindung erwies? Mochte es sich immerfort mit der sinnlichen Welt befassen, seine auf die Einheit des Weltbildes ge­richtete logische Arbeit machte aus dem Sinnlichen selbst etwas anderes, als es im unmittelbaren Eindruck vorliegt, sie gab dem ganzen sinn­lichen Dasein die Grundlage einer Gedankenwelt. Wer so die Natur als Ganzes denkt und soviel geistige Arbeit an ihr entfaltet, der steht nicht innerhalb, sondern über der Natur, der zeigt durch sein eignes Tun, dass die Aussenwelt nicht die ganze Wirklichkeit bildet. So lässt sich sagen, dass nichts den Naturalismus mit seiner Ausschliesslichkeit der Natur bündiger widerlegt als die moderne Naturwissenschaft mit ihrer Verwand­lung der Natur in das Ganze eines Gedankenreiches; je mehr die geistige Leistung und das innere Gefüge der modernen Naturwissenschaft anerkannt wird, desto deutlicher wird ihr Abstand vom Naturalismus.

Nicht minder bekundet die moderne Technik ein Ueberlegenwerden des Menschen gegen alle blosse Natur. Denn sie verlangt und erweist ein Voraneilen der Phantasie, ein Entwerfen neuer Kombinationen, ein Aufspüren neuer Möglichkeiten, ein genaues Berechnen und kühnes Wagen; wie sollte ein blosses Naturwesen, ein Stück eines gegebnen Naturprozes­ses, solcher Leistungen fähig sein?

Auch die soziale Bewegung zeigt den Menschen nicht als ganz und gar von einer gegebenen Ordnung umfangen, sondern als ein Wesen, welches das Ganze des vorgefundenen Standes überschaut, einer Beurteilung unterzieht, sich zutraut, aus eigner Kraft es wesentlich zu verändern. Da­bei ist uns das Materielle mehr geworden, aber es ist das nicht so sehr mit seinen sinnlichen Eigenschaften denn als Mittel der Steigerung des Lebens, der vollen Beherrschung der Dinge. Was erstrebt wird, ist nicht ein blosses Mehr des sinnlichen Genusses, sondern ein Stand, wo der Mensch, wo jeder Mensch zur vollen Entwicklung seiner Kräfte gelangt, und wo die gemeinsamen Verhältnisse dieser Aufgabe dienen. Schon dass immer von sozialer Idee gesprochen wird, bekundet, dass über allen Egois­mus der Einzelnen hinaus allgemeine Interessen im Spiele sind, und es hätte jene Idee nun und nimmer die Macht erlangt, die sie erlangt hat, würde sie nicht als eine Sache einerseits des Rechts, andererseits der Pflicht behandelt. Dieser ihr innewohnende ethische Zug war es vor­nehmlich, was ihr die Macht über die Gemüter verlieh, ihr begeisterte Jünger gewann, auch die Widerstrebenden fortriss. Für ein solches ethi­sches Moment aber hat das Reich der blossen Natur nicht den allermin- desten Raum; so widerlegt auch die soziale Bewegung durch ihr eignes Dasein den Naturalismus.

Alle diese Erwägungen verbinden sich zu dem Ergebnis, dass der Naturalismus keineswegs der angemessene Ausdruck der Lebensbewegung der Neuzeit ist, dass vielmehr diese Bewegung seinen Massen ganz und gar entwachsen ist und weit mehr Selbständigkeit des Geisteslebens er­wiesen hat, als er anzuerkennen vermag; das Leben selbst widerlegt jene Fassung des Lebens. Weil die Umwelt uns mehr geworden ist, sind wir damit nicht schon ein blosses Stück von ihr geworden. Der Naturalismus begeht den Fehler, der Natur selbst zuzuschreiben, was mit Hilfe geistiger Kraft aus ihr ward; es kam das namentlich daher, weil sein Augenmerk nur der Wirkung zugekehrt war; so übersah er die Kraft, die allein jene hervorbringen konnte.

Immerhin bleibt bestehen, dass hier die geistige Kraft sich nur an der Umgebung entfaltet und daher sich nicht von ihr ablösen kann. Aber es fragt sich, ob sich an dieser Stelle stehen bleiben lässt, ob nicht ein letzter Abschluss hier das Leben in einen unerträglichen Zwiespalt ver­setzt. Im Wirken zur Aussenwelt ist viel geistige Kraft hervorgebrochen, dies Anschwellen der Kraft steigert unvermeidlich den Anspruch des Lebens auf Glück und Befriedigung. Wird ein solches Wachstum des Lebens es nicht als eine schmerzliche, ja unerträgliche Beschränkung empfinden lassen, dass der Mensch sich nur mit der Umgebung befassen soll, dass er nie daraus zu sich selbst zurückkehren und die unsägliche Arbeit in einen Ertrag für sein eignes Befinden verwenden kann? Auch der Leistung selbst ist eine enge und starre Grenze gesetzt, wenn der Gegenstand unweigerlich draussen liegen bleibt, nie in unser eignes Leben verwandelt werden kann. Eine wissenschaftliche Arbeit, die nur mit einem fremden Stoffe zu tun hat, kann nie ein wahrhaftiges, volles, inner­lich aneignendes Erkennen werden, und solange wir im Menschen nur ein neben uns befindliches Wesen sehen, kann sich keine innere Gemeinschaft gegenseitiger Liebe entfalten. Alle Betätigung der Kraft ergibt, wenn ein beherrschender und die Bewegung zu sich zurückziehender Mittelpunkt fehlt, keinen Inhalt des Lebens, sie lässt uns in aller stürmischen Hast und Aufregung innerlich leer; das erfahren wir heute deutlich und emp­finden wir schmerzlich genug. Ist aber nicht solche Empfindung der Leere selbst ein Zeugnis dafür, dass noch eine weitere Tiefe in uns steckt und eine Befriedigung fordert? So gilt es die Frage aufzunehmen, ob nicht irgendwie das Leben den bis dahin erreichten Stand überschreite, ob es nicht irgendwo aus einer Beschäftigung mit draussen befindlichen Dingen zu einer Befassung mit sich selbst, zu einem Sichselbsterleben und Sichselbstgestalten werde. Eine Antwort auf diese Frage könnte nur die eigne Bewegung des Lebens geben; sehen wir, ob sie eine solche in bejahendem Sinne gibt.

Dies aber glauben wir zuversichtlich behaupten zu dürfen.

Wir brauchen nur Lebenserscheinungen, die im Einzelnen klar und unbestritten sind, in ein Ganzes zu fassen und dieses Ganze in seiner Be­deutung voll zu würdigen, um zu erkennen, dass in Wahrheit eine grosse Bewegung in uns vorgeht und eine wesentlich neue Art des Lebens er­zeugt. So weit bis dahin die Betrachtung führte, verlief das Leben zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen Kraft und Ge­genstand; der Gegenstand wurde nur von aussen her berührt, innerlich blieb er uns fremd. Nun aber vollzieht das geistige Wirken und Schaffen eine Wendung dahin, dass der Gegenstand in den Lebensprozess aufge­nommen, auf den eignen Boden der Seele versetzt wird und uns hier als ein Stück unseres eignen Lebens erregt und bewegt. Besonders deutlich zeigt dies das künstlerische Schaffen, wie es sich z. B. bei einem Goethe findet. Wir nennen dieses Schaffen ein gegenständliches und schätzen es wegen solcher Art; diese Gegenständlichkeit bedeutet aber keines­wegs, dass die Aussenwelt ohne alle seelische Zutat in ihrem sinnlichen Dasein abgebildet werde, sondern es wird hier das, was zunächst ein bloss Aeusseres scheint, in den eignen Bereich der Seele aufgenommen; Kraft und Gegenstand treten hier in fruchtbarste Wechselwirkung und verbinden sich unter gegenseitiger Erhöhung zum Ganzen eines neuen Lebens. In diesem Leben wird dem Gegenstand eine Seele eingehaucht oder die ihm innewoh­nende Seele abgelauscht, die Kraft aber findet durch die Befassung mit ihm einen Weg von der anfänglichen Unbestimmtheit zu voller Durchbildung. Der Dichter erscheint hier wie ein Zauberer, der den Dingen eine Sprache zu verleihen vermag, worin sie ihr eignes Wesen verkünden, aber diese Belebung erfolgt nur in der Seele des Dichters, nur in einer Innenwelt. Aehnliches wie in der Kunst geschieht auch im praktischen Leben, im Verhältnis von Mensch zu Mensch, wie es in Recht und Moral zum Ausdruck gelangt. Der andere Mensch, der zunächst völlig draussen zu stehen scheint, wird hier in den eignen Lebenskreis aufgenommen, wir zeigen uns fähig, uns auf seinen Standort zu versetzen, von diesem aus zu denken und zu empfinden. Am deutlichsten ist solche innere Aneignung des scheinbar Fremden auf dem Höhepunkt des Ver­hältnisses von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, wie die Liebe ihn dar­stellt. Denn hier ist augenscheinlich, dass die Kluft zwischen Eignem und Fremdem vollauf überbrückt und das Fremde ganz: und gar dem eignen Leben eingefügt ist. Auch unser Volk, unser Vaterland, das Ganze der Menschheit können wir nicht lieben, ohne in ihnen uoser eignes Leben und Wesen zu finden. In wieder anderer Richtung erweist das Streben nach Wahrheit eine entsprechende innere Erweiterung des Lebens. Denn wie könnte das Verlangen, den Gegenstand zu erkennen, eine so gewaltige Macht über uns üben, wenn er nicht irgendwie innerhalb unseres eigenen Lebens läge, wenn wir im Mühen um jenen nicht um die Vollendung un­seres eigenen Wesens kämpften?

So sehen wir Schönes, Gutes und Wahres darin zusammenstimmen, dass der Gegenstand in den Lebensprozess innerlich aufgenommen wird ; es kann das aber unmöglich geschehen, ohne dass der Anblick und die Auf­gabe dieses Prozesses sich völlig verändert. Denn nun hat das Leben an erster Stelle mit sich selbst zu tun, Kraft und Gegenstand treffen nun in ihm zusammen und . verlangen irgendwelche Ausgleichung; diese kann aber nur erfolgen, wenn beides von einem Ganzen umspannt wird, das sich in ihnen erlebt und durch sie vollendet. Damit erhält das Leben ein Verhältnis zu sich selbst, es tritt zu einer Abstufung auseinander und er­zeugt bei sich selbst eine Tiefe, ein umfassendes und beharrendes Wirken. Alsdann kann an der einzelnen Stelle ein Ganzes gegenwärtig sein und sich wirksam erweisen; so allein werden Grössen wie Ueberzeugung und Gesinnung möglich, so kann durch alle Mannigfaltigkeit der Betätigungen sich eine Persönlichkeit, ein Charakter, eine geistige Individualität erweisen. Was aber in diesen Lebensprozess aufgenommen wird, das bleibt nicht unverändert, sondern es wird gegen den Anfangsstand wesentlich weiter­gebildet und erhöht; so ist hier das Leben nicht ein blosses Abbilden oder Aneignen einer vorhandenen Wirklichkeit, sondern es ist ein Steigern und Schaffen, es findet nicht eine Welt, es muss sie sich selbst bereiten.

So ist dies Leben nicht sowohl nach aussen als gegen sich selbst gekehrt und mit sich selbst befasst, so bildet es sich selbst einen geistigen Raum; ja indem die verschiedenen Bewegungen sich zusammenschliessen, entsteht eine Innenwelt, und diese Innenwelt wird, unter völliger Um­kehrung der anfänglichen Art, zum Standort, von dem aus die geistige Arbeit geführt wird. Die Welt, die dabei entsteht, ist aber nicht eine pri­vate Sache des einzelnen Menschen, es hat nicht ein jeder sein besonderes Wahres, Gutes und Schönes, sondern das ist das Neue und Grosse, dass wir bei aller Verschiedenheit der Ausgangspunkte uns in einer gemeinsamen Welt befinden, und dass, was die einzelne Stelle erringt, über sie hinaus für alle gilt und zu einem Gesamtbesitze wird. So steigt in jedem Ein­zelnen ein neues Leben auf, das einen Weltcharakter trägt; je mehr dies das Streben des Menschen an sich zieht, desto mehr wird es zu seinem wahren Selbst, desto mehr erfolgt eine Ablösung des Lebens von dem kleinen Punkte, der es zu Anfang an sich band, desto weniger genügt ihm das Glück der natürlichen Selbsterhaltung.

Je mehr wir diese Weiterbildung des Lebens ins Ganze fassen, je mehr wir uns vergegenwärtigen, wie wesentlich neue Kräfte, wie völlig andere Lebensformen und Lebensbahnen in ihr erscheinen, ja wie sich mit ihr eine völlige Umkehrung vollzieht, je mehr auch die schweren Forderungen erhellen, welche sie an den Menschen stellt, desto weniger kann darüber ein Zweifel sein, dass sie nicht ein Machwerk des blossen Menschen, ein etwa zu Gunsten seines Geniessens und Behagens ersonne- nes Gebilde ist, sondern dass sich hier eine neue Stufe der Wirklichkeit auftut und für den Menschen zur Aufgabe wird. Eine Bewegung zu den neuen Zielen mit ihrer Entfaltung eines neuen und innigeren Grundver­hältnisses zur Wirklichkeit, mit ihrer Einpflanzung eines unendlichen Lebens in das menschliche Sein kann unmöglich vom blossen Menschen erzeugt sein, es wäre nicht einmal zu verstehen, wie ihm auch nur eine Vorstellung von ihr in den Sinn kommen könnte; es muss uns vielmehr aus dem All ein Lebensstrom umfangen und tragen und uns die Kraft verleihen, einem andersgearteten Naturstande gegenüber für die neue Stufe der Wirklichkeit zu kämpfen, sie an unserer Stelle durchzusetzen und zugleich an delr Bewegung des Weltalls teilzunehmen. Ohne ein Wurzeln in solcher Tatsächlichkeit des Alls könnte unser geistiges Streben nie einen festen Halt und eine sichere Richtung gewinnen. Es gibt kein Beisich- selbstsein und kein Sichselbsterhöhen des Lebens bei uns, wenn es kein Bei- sichselbstsein und keine innere Bewegung des Ganzen der Wirklichkeit gibt.

Mit solcher Wandlung wird die Bedeutung des Menschen und die Spannung seines Lebens unermesslich gesteigert. Erkennen wir, dass in ihm, der zunächst der Natur angehört, eine neue Stufe der Wirklichkeit aufsteigt und in ihm mit der Kraft des Ganzen wirkt, so wird er aus einem blossen Stück einer gegebenen Ordnung ein Schauplatz, auf dem Welten zusammentreffen und eine Weiterbildung suchen. Ja, mehr als ein blosser Schauplatz. Denn so wenig jene Weltbewegung aus ihm entspringen kann, ihre Belebung an dieser Stelle kann nicht erfolgen ohne sein eigenes Entscheiden und Tun; so wird er zum Mitarbeiter am Ganzen der Welten, so stellt sich bei ihm der Gebundenheit eine Freiheit, der Begrenztheit eine Unendlichkeit gegenüber. Die Welt legt nunmehr die Fremdheit ab, die sie bis dahin für ihn hatte, und wird mit dem Ganzen ihres Lebens zu seinem eigensten und innersten Wesen.

Diese Weiterbildung des Lebens zu einem vollen Beisichselbstsein ist es, welche der Idealismus ergreift, und von wo aus er seine Ziele und Masse bildet. Dass daneben die Stufe der Natur verbleibt, und dass nur in steter Beziehung auf sie und in steter Auseinandersetzung mit ihr das geistige Leben sich beim Menschen zu entwickeln vermag, das kann er vollauf anerkennen. Aber immerhin bleibt hier der prinzipielle Gegensatz, dass nicht wie beim Naturalismus der Geist von der Natur, sondern um­gekehrt die Natur vom Geiste aus verstanden und gewürdigt wird.

Dass immer wieder ein neuer Konflikt zwischen den beiden Ueber- zeugungen ausbricht, das kommt vornehmlich daher, dass die neue Welt, so sehr sie vom Grunde unseres Wesens her als eine Tatsache wirken muss, für die Tätigkeit des Menschen erst erkämpft werden muss, und dass dieser Kampf immer neue Verwicklungen bringt. Nicht nur hat der Einzelne jene Welt sich erst anzueignen, auch das Ganze der Menschheit muss um ihre nähere Gestalt erst kämpfen; diese kommt nicht als eine fertige an uns, sondern sie will von uns erst ermittelt und hergestellt sein. Und nun zeigt die weltgeschichtliche Erfahrung, dass dabei verschiedene Wege möglich sind, und dass, was anfänglich sicher zum Ziele zu führen schien, später als unzulänglich befunden wurde. Das geistige Leben ist uns zunächst in einem Nebeneinander und nur in vagem Umriss gegeben, es gilt eine umfassende und gestaltende Einheit erst zu erringen und damit dem Ganzen einen vollausgeprägten Charakter zu geben, es zugleich zu einem völlig sicheren Besitz zu machen. Nun wagt die Menschheit auf Höhepunkten der weltgeschichtlichen Arbeit den Versuch einer solchen allumfassenden Lebenssynthese und unternimmt es, von ihr aus alles Dasein durchzubilden. Im ersten, aufsteigenden Zuge mag solcher Ver­such in Wahrheit das ganze menschliche Dasein in sich zu fassen scheinen, dann aber kommen Widerstände; je mehr sie wachsen, desto weniger lässt sich verkennen, dass nicht das Ganze des menschlichen Lebens in das vorgehaltene Mass hineingeht; so befreien sich schliesslich die einzelnen Bewegungen von der versuchten Bindung, und es folgt der Zeit des positiven Schaffens und des Zusammenstrebens der Elemente eine Zeit der Kritik und des Auseinandergehens, bis dann wieder das Verlangen nach einem Zusammenhalt des Lebens zu einer neuen Synthese treibt. So folgen einander Epochen der Konzentration und der Expansion, beide dienen dem Streben der Menschheit nach einem geistigen Lebensgehalt, immer wieder erscheint die dargebotene Leistung als zu klein, aber immer wieder wird aus zwing­ender Notwendigkeit geistiger Lebenserhaltung ein neuer Versuch gewagt und in solchem Festhalten des Zieles, in solchem Influssbringen und Vordringen des Lebens, in solchem Ringen mit der Unendlichkeit erscheint eine gewaltige Grösse der Menschheit.

Mit besonderer Deutlichkeit zeigen uns das die Erfahrungen unseres europäischen Kulturkreises seit der Höhe des griechischen Lebens. Dieses Leben hat darin eine Bedeutung bleibender Art, dass es mit frischer und froher Kraft eine eigentümliche Synthese des ganzen Umkreises unseres Daseins wagte; es vollzog sie aber an der Hand der Kunst, näher der plastischen Kunst, und gestaltete von da aus alle Verzweigung der Kulturarbeit. War die Wissenschaft bemüht, aus dem Chaos der wechselnden Erscheinungen das beharrende Kunstwerk des Kosmos herauszuheben, so sollte das Han­deln die menschliche Gemeinschaft in ein genaubemessenes und wohlgefügtes Kunstwerk verwandeln, so sollte auch der Einzelne alle Mannigfaltigkeit der seelischen Kräfte und Triebe zu vollendeter Harmonie verbinden. Dadurch ist eine energische Durchbildung des ganzen Lebens erfolgt, über­all ein Stand der Tätigkeit erweckt, ein Gleichgewicht der verschiedenen Seiten erstrebt, ist dem Leben zugleich mit der Festigkeit eine innere Freudigkeit verliehen; das alles sind Errungenschaften, die einen blei­benden Gewinn bedeuten. Aber doch hat die Menschheit hiemit nicht abschliessen können, denn es trieb die Erfahrung des Lebens grössere Aufgaben, grössere Gegensätze, grössere Konflikte hervor, als hier gelöst werden konnten, es zeigte sich, dass hier der Abschluss zu rasch und zu unmittelbar gewagt war, auch dass die Seele Tiefen hat, die hier nicht voll befriedigt wurden. Das Ganze ruhte auf der Ueberzeugung von der unmittelbaren Gegenwart und der unwiderstehlichen Kraft des geistigen Lebens im menschlichen Kreise, und solche Gegenwart geriet einer matte­ren Zeit immer mehr in Unsicherheit. So kam eine Epoche der Auflösung, eines Auseinandergehens der mannigfachen Elemente, aber bei aller Ver­neinung war diese Zeit zugleich die Vorbereitung einer neuen Synthese. Eine solche Synthese erschien im alten Christentum; hier ward die ganze Wirklichkeit unter die moralische Idee gestellt und alle Mannigfaltigkeit des Lebens auf die moralische Aufgabe bezogen. Bei starker Empfindung der moralischen Schwäche des Menschen und der Unvernunft der mensch­lichen Verhältnisse konnte aber die Kraft zur Lösung jener Aufgabe nur aus einer überweltlichen Ordnung kommen. So erhielt jene moralische Synthese zugleich einen religiösen Charakter und wirkte mit diesem ver­bunden über den ganzen Umkreis des Lebens. Diese Konzentration hat eine gewaltige Vertiefung des Lebens bewirkt, eine reine Innenwelt er­zeugt und die volle Ueberlegenheit des Geisteslebens gegen die Natur erst sicher begründet; aber so sehr dies Leben auch für uns eine Gegenwart behält, in seiner alten Form ist es seit Beginn der Neuzeit auf immer stärkeren Widerspruch gestossen, eine von frischem Lebensmut erfüllte Menschheit fand hier zu wenig für die Entwicklung ihrer Kraft, und zugleich drängte ein Verlangen nach einer universalen, alle Zweige des Lebens mit gleicher Liebe umfassenden Kultur über jene moralisch-religiöse Fassung als zu eng und drückend hinaus. In Verfolgung dessen erwuchs eine neue Lebenssynthese, deren leitender Gedanke die freie Entfaltung aller Kräfte bis ins Unbegrenzte bildet, der die Steigerung des Lebens selbst zum Inhalt des Lebens wird. Aus solchem Drange ist alles in Be­wegung versetzt, was bis dahin zu ruhen schien, ist nicht nur die Natur, sondern auch der menschliche Kreis in ein rastloses Fortschreiten gebracht, und scheint nichts den Menschen mehr auszuzeichnen, als dass er, das von Natur begrenzte Wesen, durch geistige Kraft zur Unendlichkeit aufstreben kann. Dies Leben umflutet uns noch heute von allen Seiten und dringt noch immer weiter in die Verzweigung des Daseins ein, aber im Grunde der Seele und auf der Höhe der geistigen Arbeit beginnen wir an ihm irre zu werden und fühlen uns von der hier gebotenen Lösung nicht mehr befriedigt. Zunächst ist uns in Zweifel geraten, ob sich der ganze Umkreis des Daseins in eine aufsteigende Bewegung verwandeln lässt, ob nicht aus der Bewegung selbst Probleme und Verwicklungen hervorgehen, denen sie nicht gewachsen ist, ob nicht die Befreiung aller Kräfte Gegensätze und Leidenschaften heraufbeschworen hat, welche mehr und mehr die Vernunft unseres Daseins gefährden. Aber auch wenn wir diese Zweifel unter­drücken könnten, andere ünd grössere entspringen aus der Frage, ob durch eine Umsetzung in unablässig fortschreitende Tätigkeit das Leben bis zum Grunde erschöpft und die Seele vollauf befriedigt werde. Denn wenn die Bewegung kein Gegenstück an einem ihr überlegenen Beharren hat, wenn sie sich nicht von hier aus überblicken und zusammenfassen lässt, so ver­schwindet alles Beisichselbstsein des Lebens und zugleich alle Möglichkeit, ihm irgendwelchen Inhalt zu geben; es wird dann ein hastiges Weiter­und Weiterstreben, das nie zu sich selbst zurückkehrt, nie zur Bildung eines Wesens gelangt; auch kann es sich nicht eines schrankenlosen Rela­tivismus erwehren, dem morgen unwahr wird, was heute als Wahrheit gilt. Bei solcher Unruhe und Hast kann alles Vordringen der Tätigkeit nicht eine innere Leere und ein wachsendes Gefühl dieser Leere verhindern; es muss hier der Mensch bei aller Grösse technischer Leistung nach besonderen Richtungen im Ganzen seines Wesens sinken, immer mehr wird es an kraft­vollen Persönlichkeiten, immer mehr an ausgeprägten Individualitäten fehlen.

Sobald aber solche Grenzen und Verluste der modernen Lebenssyn­these zu deutlicher Empfindung kommen, wird der Glaube an sie wanken und seine Herrschaft verlieren, der von dort gegebene Zusammenhang löst sich auf, und die Gegensätze kehren wieder ihre volle Schärfe hervor; das sichere Schaffen weicht mehr und mehr einer grübelnden Reflexion, und aus einer positiven Epoche sind wir wieder in eine kritische getreten.

Wenn so dem Leben eine beherrschende Einheit und ein Wirken aus dem Ganzen fehlt, zugleich aber die Arbeit an der Umgebung sich aufs grossartigste entwickelt und glänzende Erfolge erreicht, wie wir sahen, so ist begreiflich, dass das Gleichgewicht des Lebens verloren geht, dass jene Erfolge in seinem Bilde vorantreten und es am Ende gänzlich beherrschen; so wird über der Leistung die hervorbringende Kraft vergessen, die Bil­dung scheint ganz und gar von aussen nach innen zu gehen, der Mensch erscheint schliesslich ganz und gar als ein blosses Produkt der Umgebung. Das alles aber, weil die zentrale Kraft dem Zustrom der Aussenwelt bei weitem nicht gewachsen ist. Dies ist die Lage und Stimmung, welche dem Naturalismus Macht über die Seelen verleiht, wir verstehen durchaus, wie er als der Ausdruck einer besonderen Zeitlage Boden gewinnt, aber eben indem wir dies verstehen, finden wir uns in der Ueberzeugung bestärkt, dass er nicht das Ganze und Wesentliche der menschlichen Erfahrung vertritt.

Sein Versuch, den Menschen ganz und gar zur Natur zurückzuziehen, kann nur so lange aussichtsvoll scheinen, als das menschliche Dasein nichts wesentlich Neues an Kräften und Zielen bringt; nun aber haben wir er­kannt, dass in ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit einsetzt und zum Standort geistiger Arbeit wird; die Möglichkeit einer einfachen Rückkehr zur Natur ist damit ausgeschlossen. Dies Neue mag sich zeitweise dem Bewusstsein des Menschen verdunkeln, in seiner Seele verbleibt der Nieder­schlag der weltgeschichtlichen Arbeit; inmitten aller Kämpfe, Zweifel und Irrungen, die sie mit sich bringt, ja in der Verneinung selbst, hat sie ihn über den Stand der blossen Natur weit und sicher hinausgehoben; nur deshalb kann der Naturalismus zu genügen scheinen, weil er sich unbedenk­lich in weitestem Umfang aus der Atmosphäre des Idealismus zu ergän­zen pflegt; je mehr diese Ergänzung verschwindet, je mehr der Naturalis­mus sich lediglich auf sein eignes Vermögen stellt und mit seinen Mitteln das ganze Leben bestreiten will, desto deutlicher wird seine Unzulänglich­keit, desto entschiedener wird der Kampf gegen ihn als gegen eine uner­trägliche Verflachung des Lebens aufgenommen werden, desto kräftiger wird sich eine Bewegung zum Idealismus und zum Suchen einer neuen Lebenssynthese erheben.

Denn darüber kann kein Zweifel sein: wenn in der Zeit sich wieder ein starkes Verlangen nach einem Beisichselbstsein des Lebens und nach einer gehaltvollen Innenwelt regt, es lässt sich unmöglich durch ein ein­faches Zurückgreifen auf frühere Lebensgestaltungen befriedigen. So ge­wiss in den älteren Lebenssynthesen unvergängliche Wahrheiten stecken, die der Menschheit nicht verloren gehen können, wie wäre die ungeheure Erschütterung, wie wäre das Unsicherwerden Uber das Ganze des Lebens begreiflich, wenn sie so, wie sie geschichtlich vorliegen, den letzten Ab- schluss enthielten? Wir überzeugten uns davon, wie tiefeingreifende Wand­lungen die Neuzeit gebracht hat, wir erkannten eine weit engere Verket­tung des Menschen mit seiner Umgebung, wir sahen die nächste Welt eine weit grössere Bedeutung gewinnen, wir erkannten zugleich, auf wie harte Widerstände das Streben nach einer völligen Vergeistigung des Daseins stösst, wir empfinden eine tiefere Kluft zwischen dem unmittel­baren Dasein des Menschen und den Forderungen des geistigen Lebens und müssen grössere Wandlungen im Bilde des Menschen vornehmen, um auf den Punkt des geistigen Schaffens zu kommen. Wir dürfen nicht mehr hoffen, in raschem Zuge das ganze Dasein in geistige Bewegung zu bringen, wir müssen vor allem danach streben, einen Kern des Lebens auszubilden und uns in ihm zu befestigen; von da aus gilt es der Aussen- welt gewachsen zu werden und allmählich gegen sie vorzudringen. Was immer die Neuzeit und Gegenwart an neuen Einsichten und Aufgaben brachte, das kann dabei volle Anerkennung finden, im besondern auch die gewaltige intellektuelle Klärung und die Steigerung des menschlichen Wohles, die der modernen Naturforschung verdankt wird, nur lässt sich das Neue nicht einfach so aufnehmen, wie es sich im unmittelbaren Eindruch darstellt und dabei leicht mit subjectiver Deutung und Tendenz zusammenrinnt, sondern sein reiner Wahrheitsgehalt ist erst herauszu­arbeiten, und das kann nur im Zusammenhang mit der gesamten weltge­schichtlichen Erfahrung geschehen. Jede Ueberzeugung, welche die Menschheit gewinnen will, bedarf eines offnen Sinnes für die Bewegung der eignen Zeit, aber solche Offenheit bedeutet nicht ein wehr- und willenloses Dahintreiben auf den Wogen der Zeitoberfläche.

Mag eine Neubelebung des Idealismus noch so viel Widerstand finden und noch so viel Schwierigkeiten haben, die Aufgabe hält uns zwingend fest, wir können uns ihr nicht entziehen. Ist die Menschheit einmal zu einem Beisichselbstein des Lebens gelangt, so kann sie nicht wieder darauf verzichten, so muss sie mit ganzer Kraft auf Mittel und Wege sinnen, um die notwendige Forderung zu gelingender Durch­führung zu bringen; ist der Mensch einmal aus den Verkettungen des Naturlebens herausgetreten, so kann er unmöglich sich in sie zurück­begeben; ist er zur Selbsttätigkeit emporgestiegen, so kann er nicht wieder sich von undurchsichtigen Mächten willenlos dahintreiben lassen; ist er zu einem Leben mit dem All und seiner Unendlichkeit vorgedrungen, so kann er unmöglich zur Begrenztheit eines blossen Naturwesens zurück­kehren; ist das Verlangen nach einem inneren Verhältnis zur Welt in ihm mächtig geworden, so kann alles äussere Verhältnis zu ihr ihm nicht mehr genügen. So drängt es überall über die Masse des Naturalis­mus hinaus.

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Im besondern fordern ein Wiederaufnehmen der Bewegung zum Idea­lismus die eigentümlichen Erfahrungen und Bedürfnisse unser eigenen Zeit. In dem unablässigen Anschwellen der Arbeit und in der Hast des Kampfes ums Dasein ist uns aller Sinn des Lebens verdunkelt und unserem Handeln ein beherrschendes Hauptziel verloren gegangen; können wir hoffen ein solches wiederzufinden, ohne dass in der Seele des ganzen Menschen eine energische Konzentration und eine durchgreifende Erhöhung erfolgt? Bei aller Buntheit neuer Bilder zeigt die Gegenwart manche greisenhaften

Züge, und es regt sich mächtig in ihr ein Verlangen nach einer Verjün­gung des Lebens, nach einem Hervorbrechen reiner und ursprünglicher Anfänge; wäre dies Verlangen nicht eine Torheit, wenn den Menschen ganz und gar die Notwendigkeit eines Naturprozesses umfinge? Was an geistigem Schaffen aufkomnt, das pflegt zu allen Zeiten von kleinmensch­lichen Interessen umsäumt und leicht überwuchert zu werden; das aber macht einen nicht geringen Unterschied, ob sich solcher entstellenden Ueber- wucherung entgegenarbeiten lässt oder nicht; zu jenem bedarf es aber notwendig eines die Menschen verbindenden und erhöhenden Zieles; verzichten wir darauf, so sind wir der Kleinheit des blossen Menschen rettungslos preisgegeben, und heute macht diese Kleinheit sich in uner­träglicher Weise breit. Im hastigen Wirbel des Tageslebens pflegt Hö­heres und Niederes, Wesenhaftes und Scheinbares, Echtes und Unechtes ungeschieden durcheinanderzugehen, es fehlt der Sinn für das Substantielle, es fehlt die Anerkennung des grossen Entweder-oder, das durch das menschliche Leben geht. Nur bei einer energischen Scheidung der Geister werden wir auch wieder zu einer Sammlung kommen, worin sich das viele Gute und Bedeutende, das die Zeit enthält, die Fülle des red­lichen Wollens und der Aufopferungsfähigkeit zu gemeinsamer Wirkung verbindet und dem Leben einen lebenswerten Inhalt gibt. Aber wie soll sich diese Scheidung und Sammlung vollziehen lassen, wenn nicht wieder eine Lebenssynthese innerer Art erfolgt und die Menschheit über die Un­sicherheit der individuellen Reflexion hinaushebt?

Dabei beschränkt sich der Gegensatz, der im Kampf des Natura­lismus und des Idealismus zum Ausdruck kommt, nicht auf den allge­meinen Umriss des Lebens, er erstreckt sich in alle Gebiete hinein, die ein Ganzes der Ueberzeugung vertreten. Durchgängig macht es einen gewaltigen Unterschied, ob der Mensch sich einem vorgefundenen Dasein ergibt und sich nur an ihm zu tun macht, oder ob er, vom Glauben an eine aufsteigende Bewegung des Alls erfüllt, selbstättig dabei mitzuwirken, neue Ziele zu eröffnen, neue Kräfte zu entbinden vermag. Das gilt auch von der Literatur, wie mit einigen Worten angedeutet sein mag. Der Naturalismus kann der Literatur keine innere Selbständigkeit verleihen und keine eigene Initiative gestatten, ihm bildet sie nur einen Zeiger des Lebens der Zeit, sie kann nur nachbilden, nur registrieren, was in ihm vorgeht, sie mag durch die Eindringlichkeit ihrer Schilderung die Zeit zu deutlicherem Bewusstein ihres Wollens bringen, eine schöpferische Kraft aber ist ihr versagt, so kann sie nicht zu innerer Befreiung und Erhöhung des Men­sehen wirken. Zugleich muss ihrem Vermögen das Dramatische fehlen, da dieses nicht ohne die Möglichkeit einer inneren Wandlung, eines inne­ren Aufklimmens bestehen kann. — Völlig anders stellt sich die Aussicht und Aufgabe, wenn die Literatur eine grosse Wendung im menschlichen Leben, die Möglichkeit eines Aufsteigens zu einer neuen Stufe anerkennt und sich selbst berufen fühlt, zu diesem Aufsteigen mitzuwirken. Dann kann sie das Leben bilden helfen und die Zeit zu führen suchen, indem sie dem, was in den Seelen aufstrebt, eine Verkörperung verleiht und es zugleich in bestimmte Bahnen führt; dann kann sie klärend und befesti­gend wirken, indem sie aus dem wirren Chaos der Zeit einfache Grundzüge heraushebt, uns die Hauptbrobleme unserer geistigen Existenz vor Augen stellt und sie uns eindringlich macht; dann kann sie unser Leben gegen­über der blossen Alltagskultur durch Vergegenwärtigung ewiger Wahr­heiten ins Grosse heben und uns inmitten alles Dunkels unserer Lage im Glauben an eine Vernunft unseres Daseins stärken, dann kann sie in dem Sinne wirken, wie er dem edlen Alfred Nobel vorschwebte, als er der Literatur einen Ehrenplatz in seiner Stiftung anwies.

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So sprechen bewegende Gründe für ein Festhalten am Idealismus und für ein Streben, ihm eine den Erfahrungen der weltgeschicstlichen Arbeit entsprechende Gestalt zu geben. Aber in rechten Fluss kommen wird solches Streben nur, wenn es als eine persönliche Notwendigkeit ergriffen und als eine Sache geistiger Selbsterhaltung betrieben wird. Nur aus solcher Anerkennung einer zwingenden Notwendigkeit kann ein freudiger Mut und ein fester Glaube quellen, ein Glaube nicht an ferne und fremde Dinge, sondern an das in uns waltende Leben selbst, das uns über den nächsten Stand hinausführt und an den grossen Zusammenhängen der Wirklichkeit innerlich teilnehmen lässt. Nur ein solcher Glaube kann uns den ungeheuren Widerständen gewachsen machen und uns mit der frohen Zuversicht eines Gelingens erfüllen.

Du musst glauben, du musst wagen,
Denn die Götter leihn kein Pfand;
Nur ein Wunder kann dich tragen
In das schöne Wunderland.

From Nobel Lectures, Literature 1901-1967, Editor Horst Frenz, Elsevier Publishing Company, Amsterdam, 1969

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MLA style: Rudolf Eucken – Nobel Lecture. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Tue. 5 Nov 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1908/eucken/25766-rudolf-eucken-nobel-lecture-1908/>

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