Elias Canetti – Prose

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Auftritt des Hexenmeisters

Wie sehr ich mich verändert hatte, erkannte ich an den Besuchen des Großvaters. Er kam erst nach Zürich, als er mich allein wußte. Die Spannung zwischen ihm und der Mutter war wohl gewachsen, einige Jahre ging er ihr aus dem Weg, aber sie schrieben sich regelmäßig. Während des Krieges bekam er Postkarten, auf denen ihm unsere neuen Adressen mitgeteilt wurden, später wechselten sie formelle und unpersönliche Briefe.

Kaum wußte er mich in der ›Yalta‹, erschien er in Zürich. Er stieg im Hotel ›Central‹ ab und bestellte mich zu sich. Seine Hotelzimmer, ob in Wien oder Zürich, sahen sich ähnlich, es herrschte in ihnen derselbe Geruch. Er war in Riemen verschnürt bei seinem Abendgebet, als ich kam, während er mich küßte und in Tränen badete, betete er weiter. Er wies auf eine Schublade, die ich statt seiner öffnen sollte, drin lag ein dickes Kuvert mit Briefmarken, die er für mich gesammelt hatte. Ich leerte es auf der niederen Kommode aus und musterte sie, manche hatte ich schon, manche hatte ich nicht, er folgte mit Argusaugen dem Mienenspiel auf meinem Gesicht, das ihm in rascher Abwechslung Freude oder Enttäuschung verriet. Da ich ihn in seinem Gebet nicht unterbrechen wollte, sagte ich nichts, das hielt er aber nicht aus und unterbrach selbst den feierlichen Ton seiner hebräischen Worte mit einem fragenden »Nu?« Ich gab einige unartikulierte, begeisterte Laute von mir, das befriedigte ihn und er betete weiter. Das dauerte ziemlich lange, alles war festgesetzt, er ließ nichts aus und verkürzte nichts, da es ohnehin in maximaler Geschwindigkeit vor sich, ging, ließ sich auch nichts beschleunigen. Dann war er fertig, er prüfte mich, ob ich die Länder wußte, aus denen die Briefmarken stammten, und überschüttete mich mit Lob für die richtige Auskunft. Das war, als ob ich noch in Wien und erst zehn Jahre alt wäre, es war mir so lästig wie seine Freudentränen, die schon wieder flossen. Er weinte, während er zu mir sprach, er war überwältigt davon, mich am Leben zu finden, seinen Namensenkel, wieder ein Stück größer, und vielleicht auch davon, daß er selbst noch da war, es zu erleben.

Sobald er mich zu Ende geprüft und sich ausgeweint hatte, führte er mich aus, in ein alkoholfreies Restaurant, wo ›Saaltöchter‹ bedienten. Für solche hatte er ein eifriges Auge, und es war ihm unmöglich, etwas zu bestellen, ohne ein umständliches Gespräch. Es begann damit, daß er auf mich zeigte und sagte: »Mein Enkeli!« Dann zählte er alle Sprachen auf, die er könne, es waren ihrer immer noch 17. Die Saaltochter, die zu tun hatte, hörte sich die Liste, in der Schweizerdeutsch nicht figurierte, ungeduldig an, sobald sie Anstalten machte zu verschwinden, legte er ihr beschwichtigend die Hand auf die Hüfte und ließ sie da liegen. Ich schämte mich für ihn, aber das Mädchen hielt still; als ich den Kopf, den ich gesenkt hatte, wieder hob, er war mit seinen Sprachen zu Ende, lag seine Hand noch an Ort und Stelle. Er nahm sie erst weg, wenn es ans Bestellen ging, das mußte er mit der Tochter beraten, dazu brauchte er beide Hände, nach einer längeren Prozedur bestellte er dann doch dasselbe wie immer, für sich einen Joghurt, für mich einen Kaffee. Während die Tochter fort war, redete ich auf ihn ein: das hier sei nicht Wien, in der Schweiz sei es anders, man könne sich nicht so benehmen, es könne ihm passieren, daß er von einer Saaltochter eine Ohrfeige bekomme. Er antwortete nichts, er meinte es besser zu wissen. Als die Tochter mit Joghurt und Kaffee zurückkam, lächelte sie ihn freundlich an, er dankte emphatisch, legte ihr nochmals die Hand auf die Hüfte und versprach beim nächsten Besuch in Zürich wiederzukommen. Ich beeilte mich mit dem Trinken, um nur rasch von hier fortzukommen, gegen jeden Augenschein davon überzeugt, daß er sie beleidigt habe.

Ich war unvorsichtig genug, ihm von der ›Yalta‹ zu erzählen, er bestand darauf, mich da zu besuchen, und kündigte sich an. Fräulein Mina war nicht zuhause, Fräulein Rosy empfing ihn. Sie führte ihn durch Haus und Garten, er war an allem interessiert und stellte unzählige Fragen. Bei jedem Obstbaum fragte er danach, wieviel er trage. Er fragte nach den Mädchen, die da wohnten, nach Namen, Herkunft und Alter. Er zählte sie zusammen, damals waren es neun, und meinte, daß mehr im Hause unterzubringen wären. Fräulein Rosy sagte, daß fast jede ein eigenes Zimmer habe, da wollte er die Zimmer sehen. Sie, von seiner Lustigkeit und seinen Fragen hingerissen, führte ihn ahnungslos in jedes der Zimmer. Die Mädchen waren in der Stadt oder in der Halle, Fräulein Rosy fand nichts dabei, ihm die leeren Schlafzimmer zu zeigen, die ich noch nie gesehen hatte. Er bewunderte die Aussicht und prüfte die Betten. Er schätzte jedes Zimmer nach seiner Größe ab und meinte, daß da leicht ein zweites Bett hineinginge. Er hatte sich die Herkunftsländer der Mädchen gemerkt und wollte wissen, wo die Französin, wo die Holländerin, wo die Brasilianerin und ganz besonders, wo die beiden Schwedinnen schliefen. Schließlich fragte er nach dem Spatzennest, dem Atelier von Fräulein Mina. Ich hatte ihn vorher gewarnt, er müsse sich die Bilder genau ansehen und manche müsse er loben. Das tat er nun auf seine Weise: wie ein Kenner blieb er erst in einiger Entfernung davor stehen, trat dann ganz nahe heran und besah sich genau die Malweise. Er schüttelte den Kopf über soviel Können und brach dann in begeisterte Superlative aus, wobei er die Schlauheit hatte, statt spanischer italienische Worte zu gebrauchen, die Fräulein Rosy verstand. Manche Blumen kannte er von seinem Garten zuhause, Tulpen, Nelken und Rosen, und bat, der Malerin seine Glückwünsche für ihr Können auszurichten: so etwas habe er noch nie gesehen, was auch stimmte, und ob sie auch Obstbäume und Früchte male? Er bedauerte, daß keine zu sehen waren, und riet inständig zu einer Erweiterung des Repertoires. Damit verblüffte er uns beide, weder Fräulein Rosy noch mir war der Gedanke je gekommen. Als er anfing, nach dem Wert der Bilder zu fragen, sah ich ihn streng, doch vergeblich an. Er ließ sich nicht beirren, Fräulein Rosy holte eine Liste von der letzten Ausstellung und unterrichtete ihn über die Preise. Da gab es manche, die zu mehreren hundert Franken verkauft worden waren, kleinere waren billiger gewesen, er ließ sich alle Preise der Reihe nach sagen, zählte sie auf der Stelle im Kopf zusammen und überraschte uns mit dem ansehnlichen Resultat, das wir beide gar nicht gekannt hatten. Dann fügte er noch großartig hinzu, daß es darauf nicht ankomme, es käme auf die Schönheit, »la hermosura« der Bilder an, und als Fräulein Rosy den Kopf schüttelte, weil sie das Wort nicht verstand, fiel er mir, bevor ich es übersetzt hatte, blitzschnell ins Wort und sagte italienisch: »la bellezza, la bellezza, la bellezza!«

Dann wollte er nochmals den Garten sehen, diesmal gründlicher. Auf dem Tennisplatz fragte er danach, wie groß der Grund sei, der zum Haus gehöre. Fräulein Rosy wurde verlegen, denn sie wußte es nicht: schon maß er den Tennisplatz mit Schritten ab, die Länge und die Breite, schon hatte er die Zahl seiner Quadratmeter berechnet, platzte damit heraus und überlegte ein wenig. Er verglich die Größe des Tennisplatzes mit der des Gartens, auch mit der der Wiese nebenan, machte ein pfiffiges Gesicht und sagte: so und so groß sei das Ganze. Fräulein Rosy war überwältigt, der Besuch, den ich so gefürchtet hatte, war ein Triumph. Für den frühen Abend nahm er mich zu einer Aufführung im Waldtheater überm Dolder mit. Als ich nach Hause kam, erwarteten mich die Damen in ihrem Zimmer. Fräulein Mina konnte sich nicht verzeihen, daß sie ausgewesen war, eine Stunde lang hörte ich das Lob des Großvaters singen. Sogar die Größe des Grundes hatte er richtig berechnet, ein wahrer Hexenmeister.

Elias Canetti: “Auftritt des Hexenmeister”s von Die gerettete Zunge.
Copyright © by Elias Canetti 1977,
by the heirs of Elias Canetti 1994.
Published by kind permission of Carl Hanser Verlag München Wien.

Excerpt selected by the Nobel Library of the Swedish Academy.

 

To cite this section
MLA style: Elias Canetti – Prose. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Sun. 30 Jun 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1981/canetti/25662-elias-canetti-prose-1981/>

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