Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2000 – Pressemitteilung
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Der ständige Sekretär
Pressemitteilung
12. Oktober 2000
Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2000
Gao Xingjian
Die Schwedische Akademie verleiht den Nobelpreis für das Jahr 2000 an den chinesischsprachigen Schriftsteller Gao Xingjian
“für ein Werk von universaler Gültigkeit, bitterer Einsicht und sprachlichem Sinnreichtum, das chinesischer Romankunst und Dramatik neue Wege eröffnet hat”.
Im Werk Gao Xingjians wird die Literatur aus dem Kampf des Individuums, die Geschichte der Massen zu überleben, wiedergeboren. Er ist ein Zweifler, der alles durchschaut, ohne Anspruch darauf zu erheben, die Welt erklären zu können. Er vertritt die Auffassung, die Freiheit sei nur im Schreiben anzutreffen.
Der grosse Roman Der Berg der Seele ist eine der seltenen literarischen Schöpfungen, die anscheinend mit nichts anderem als sich selbst verglichen werden können. Er baut auf Eindrücken von Reisen in entlegene Gebiete des südlichen und südwestlichen Chinas, wo sich schamanische Bräuche erhalten haben, wo Balladen und Lügengeschichten über Räuber als wahr vorgetragen werden und wo man Vertretern einer uralten taoistischen Weisheit begegnen kann. Das Buch ist ein Gewebe aus Geschichten mit mehreren Hauptgestalten, die einander spiegeln und vielleicht Aspekte ein und desselben Ichs darstellen. Durch einen freien Gebrauch von Personalpronomina erzielt Gao blitzschnelle Perspektivenwechsel und zwingt den Leser dazu, alle vertraulichen Mitteilungen in Frage zu stellen. Diese Verfahrensweise hat ihren Ursprung in seinen Dramen, die in vielen Fällen von dem Schauspieler fordern, eine Rolle zu verkörpern und sie gleichzeitig von außen zu beschreiben. Ich, Du und Er/Sie werden Bezeichnungen für einen wechselnden inneren Abstand.
Der Berg der Seele ist ein Pilgerroman, in dem der Protagonist zu sich selbst wallfährt, und eine Fahrt längs einer spiegelnden Fläche, die Fiktion und Leben, Phantasie und Erinnerung voneinander trennt. Die Diskussion des Erkenntnisproblems nimmt immer mehr die Form einer Einübung in die Befreiung von Ziel und Sinn an. Durch die Vielstimmigkeit, die Kreuzungen der Genres und die Reflektion des Schreibaktes in sich selbst erinnert das Buch an die großartige Idee der deutschen Romantik von einer Universalpoesie.
Gao Xingjians zweiter Roman Die Bibel eines einsamen Menschen führt die Themen des Romans Der Berg der Seele weiter, aber ist leichter zu überblicken. Der Kern des Buches ist die Abrechnung mit dem schreckeinjagenden Wahnsinn, der gewöhnlich die chinesische Kulturrevolution genannt wird. Mit schonungsloser Aufrichtigkeit schildert der Verfasser der Reihe nach seine Erfahrungen als politischer Aktivist, Opfer und außenstehender Beobachter. Seine Erzählung hätte in der moralischen, stellvertretenden Haltung des Dissidenten ausmünden können, aber er weist diese Position zurück und weigert sich, jemand anderen zu erlösen. Gao Xingjians Werk ist frei von jeder Anbiederung, auch der gegenüber dem guten Willen. Sein Stück Die Flucht verärgerte die Demokratiebewegung ebenso wie die Machthaber.
Gao Xingjian bezeugt selbst die Bedeutung der nichtnaturalistischen Strömungen des abendländischen Theaters für sein dramatisches Schaffen und erwähnt Artaud, Brecht, Beckett und Kantor. Genauso wichtig war für ihn indessen ”die Quellflüsse des Volkstheaters zu öffnen”. Als er ein chinesisches Sprechtheater schuf, knüpfte er an altertümliches Maskenspiel, Schattenspiel und Tanz-Gesang-Trommel-Traditionen an. Er nimmt die Möglichkeit wahr, sich genauso wie in der chinesischen Oper auf der Bühne nur mit Hilfe eines Worts oder einer Geste frei in Zeit und Raum bewegen zu können. Die freien Verwandlungen und die groteske Symbolsprache des Traums brechen in die scharfen Bilder des Menschen der Gegenwart ein. Erotische Themen geben seinen Texten eine fieberhafte Spannung, und mehrere von ihnen haben die Choreographie der Verführung als Grundmuster. Darin ist er einer der wenigen männlichen Schriftsteller, die der Wahrheit der Frauen dasselbe Gewicht zubilligen wie der eigenen.
Die Schwedische Akademie
Nobel Prizes and laureates
Six prizes were awarded for achievements that have conferred the greatest benefit to humankind. The 12 laureates' work and discoveries range from proteins' structures and machine learning to fighting for a world free of nuclear weapons.
See them all presented here.