Gustav Stresemann – Nobel Lecture

German

Vortrag gehalten am 29. Juni 1927 auf Einladung des Storthing-Nobelkomitees in der Aula der Universität in Oslo

(Translation)

Der Weg des neuen Deutschlands

Euere Majestät, Herr Präsident, Eure Magnifizenz, meine Damen und Herren!

Lassen Sie mich, wenn ich heute die Ehre habe, vor Ihnen zu sprechen, beginnen mit dem Ausdruck des tiefgefühlten Dankes für die grosse Auszeichnung, die mir das Nobelkomitee zuerkannt hat, und lassen Sie mich hinzufügen den Ausdruck desselben tiefgefühlten Dankes für die so herzliche Begrüssung, die Sie mir soeben zuteil werden liessen. Ich weiss, diese Auszeichnung hat einen besonderen Charakter. Sie gilt nicht der wissenschaftlichen und theoretischen Forschung, sondern der praktischen Politik. Sie gilt nicht einem einzelnen und nicht dem Repräsentanten eines einzelnen Landes. Sie bildet eine Einheit in bezug auf die Politik derjenigen Länder, die denselben Weg gehen. Somit gilt sie, auch für Deutschland, nicht allein einer einzelnen Persönlichkeit. Als überzeugter Anhänger des Individualismus möchte ich allerdings das Wirken der einzelnen Persönlichkeit nicht gering einschätzen. Denn nicht die Masse führt den einzelnen, sondern der einzelne vermag die Masse zu führen. Aber wenn es sich um grosse Ideen, um Lebensfragen eines Volkes handelt, braucht die Einzelpersönlichkeit die Unterstützung der geistigen Führer ihrer Nation.

Ich habe in den letzten Jahren einen teilweise harten Kampf um die deutsche Aussenpolitik geführt. Deshalb bin ich vielleicht am ehesten in der Lage, die Frage zu beantworten, die so oft gestellt wird, die Frage nach der Geistesverfassung Deutschlands. Die Auffassung des Auslandes schwankt in bezug auf diese Geistesverfassung zwischen Anerkennung, Skepsis, Kritik und Angriff. Lassen Sie mich versuchen, soweit die geschichtlich kurze Nachkriegszeit das gestattet, die Frage zu beantworten, welche geistig politischen Strömungen in diesem neuen Deutschland die führenden sind.

Ich müsste diese Betrachtung beginnen mit einer Darlegung des alten Deutschland. Auch dieses Deutschland hat darunter gelitten, dass es vielfach nach Äusserlichkeiten beurteilt wurde, und dass Schein und Sein nicht immer auseinandergehalten worden sind. Es hatte wohl noch die Züge Friedrich Wilhelms I, d. h. den Zug der Bevormundung. Aber die Bevormundung war eingegeben von einer eisernen Pflichttreue gegen Staat und Volk. Es hatte die rauhe Aussenseite eines Beamtentums, das als Bureaukratie in der Welt verschrien war, das aber nur einen Ehrbegriff kannte: die Unterordnung unter den Staat. Es war teilweise unterlegen im Kampfe mit den vorwärtsschreitenden Ideen des Sozialismus, hatte im Bürgertum keine siegende Idee diesem sozialistischen Gedanken entgegengestellt. Aber es war ein Land des sozialpolitischen Fortschrittes und viel weniger manchesterlich als andere Staaten mit anderer Staatsform. Es war das Land der Kasernen, das Land der allgemeinen Dienstpflicht und einer starken Militärfreundlichkeit; aber es war auch das Land der Technik und der Chemie wie überhaupt modernster Forschung. Altes und Neues rang in ihm nach Gestaltung. Wer seine Geschichte schreibt, der sehe in die Tiefe und bleibe nicht an der Oberfläche.

Es war das Land, in dem die meisten von uns, die heute an verantwortlicher Stelle in Deutschland stehen, den grössten Teil ihres Lebens verbracht haben. Wie das Kind der Vater des Mannes ist, so sind die Jugendeindrücke im Menschen am stärksten. Wie das Kind seinen Vater ehrt, auch wenn es Schwächen und Fehler an ihm wahrnimmt, so wird ein Deutscher nicht das alte Deutschland geringachten, das ihm einst Sinnbild der Grosse gewesen. Das englische Wort: »England, with all Thy faults, I love Thee still» gilt für das Gute und Verehrungswürdige des alten Deutschland, wie von denen, die in ihm lebten und webten, dieselbe Anerkennung für das Verehrungswürdige und Grosse des heutigen Deutschland aus denselben Gründen verlangt werden muss.

Dieses Deutschland ist durch den Weltkrieg zusammengebrochen. Zusammengebrochen in seiner Verfassung, in seiner gesellschaftlichen Form, in seiner wirtschaftlichen Gestaltung. Sein Denken und Fühlen ist umgeformt. Niemand kann sagen, dass diese Umformung ihr Ende gefunden hätte. Es ist ein Prozess, der sich durch Generationen fortsetzen wird. Aber wie Hast und Unruhe Sinnbild unseres heutigen Lebens sind, so geht auch die Entwicklung in schnellerem Tempo als ehedem. Gilt doch für die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Völkern dasselbe wie für die Entwicklung eines einzelnen Volkes.

Die Idee der Nobelstiftung ist die Förderung des Friedens. Der leitende Gedanke des Mannes, der sie schuf, war, den von ihm selbst mit genialem Erfinderblick entfesselten Naturkräften die bändigende Macht des Menschengeistes entgegenzusetzen. Entspricht die Friedenspolitik, die hier belohnt werden sollte, der heutigen Entwicklung im deutschen Volke? Man könnte wohl sagen, dass die Antwort dadurch gegeben ist, dass die Grundideen der deutschen Verständigungs- und Friedenspolitik nicht möglich wären, wenn sie nicht dem tiefsten Sehnen der deutschen Volksseele, dem Sehnen nach friedlicher internationaler Zusammenarbeit in Recht und Freiheit, entsprochen hätten.

Dabei kreuzen sich zwei Ideen, mit denen sich die Gegenwart auseinandersetzen muss: die Idee des nationalen und die Idee des internationalen Zusammenwirkens. Oberflächliche Betrachtung glaubt, dass nationales Denken, Geistesstreben und Fühlen begrenzt seien durch Sprache, Volkstum und Grenzen. Diese Gegenüberstellung des nationalen und internationalen Zusammenwirkens als zweier Gegensätze erscheint mir töricht. Ich habe als Vertreter Deutschlands mich gerade mit diesen Ideen in Genf versucht auseinanderzusetzen und den Gedanken zum Ausdruck gebracht, dass es nicht der Wille einer göttlichen Weltordnung gewesen sein kann, dass die höchste Leistungsfähigkeit der Menschen sich gegeneinanderkehren solle. Ich habe versucht darzulegen, dass, wer das Höchste in sich entwickelt auf Grund dessen, was Nationalität und die Blutströme des eigenen Volkes ihm geben, über das seinem Volk Eigene die grosse Linie des allgemeinen Wissens, des allgemeinen Empfindens in sich so fühlen und nach aussen zum Ausdruck bringen wird, dass auf dem erdgewachsenen Boden seiner Anschauungen das grosse Menschliche die Wölbung über dem Dom des vaterländischen Empfindens ist. So wie Shakespeare nur möglich war auf englischem Boden. So wie Ihre grossen Dramatiker und Dichter das aus strahlen, was Natur und Seele des norwegischen Volkes erfüllt, und doch das Allgemeingültige des Menschentums damit verbinden. So wie Dante nur verstanden werden kann von der italienischen Volksseele aus, so wie Faust nur denkbar ist auf dem Grunde einer deutschen Seele – beide Allgemeingut, indem sie die Fesseln sprengen, die sie an die eigene Nation knüpfen, und doch nur gross, weil sie erdgewachsen sind auf dem Boden des Fühlens dieser eigenen Nation. Es braucht nicht Hemmnis zu sein, sondern wird Brücke der Verständigung auf geistigem Gebiete. So wie es auf diesem Gebiete ist, so ragen die Grossen eines Volkes hinein in die Menschheit, nicht trennend, sondern verbindend, international versöhnend und doch national gross. So wie vor kurzem der französische Minister Herriot auf der Internationalen Musikausstellung in Frankfurt a. M. das schöne Wort aussprach: »International kann nur wirken, wer zunächst national fühlt», so wie er das andere Wort prägte: »dass für den Frieden nur wirken kann, wer innerlich friedlich gestimmt ist.» Hier aber steht das grosse Fragezeichen von der einen Nation zu der anderen: »Meinst du es ehrlich mit dem Zusammenwirken? Wie denkst du in deinem Geist? Kann ich tief in deine Seele schauen, um zu wissen, dass du neben und mit mir wirken und schaffen willst?» Es ist die Frage, die besonders so oft an Deutschland gestellt worden ist und über die ich hier im speziellen sprechen möchte.

Wenn man die Erfahrungen und die Empfindungen der ersten Nach kriegszeit analysieren will, dann darf man wohl, ohne des Mangels an Objektivität geziehen zu werden, sagen, dass das Aussprechen des Friedensgedankens dem Sieger leichter ist, als dem, der die Niederlage erlitten hat. Denn für den Sieger bedeutet der Frieden die Aufrechterhaltung einer Machtstellung, die der Sieg ihm verliehen hatte. Für den Unterlegenen bedeutet er dagegen das Sichabfinden mit der Stellung, die ihm geblieben. Auf einem Wege, den man neben anderen geht, zurückbleiben, neidlos den anderen den Vortritt lassen, ist schwer für den einzelnen Menschen, schwer für ein ganzes Volk. Aber in einer halbhundertjährigen Entwicklung glauben, auf der Höhe angekommen zu sein, und von der Höhe herabstürzen, ist weit schmerzlicher für die menschliche Seele. Die Psychologie eines Volkes, die das erlebt, ist nicht so einfach zu begreifen und nicht so einfach umzugestalten, wie viele glauben.

Das neue Deutschland stand vor diesem Problem. Die Entwicklung zu jenen Wegen, die Ihr Präsident durch die Worte Locarno und Genf, durch den Hinweis auf den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund bezeichnete, wurde ihm nicht leicht gemacht. Die Höflichkeit, die gerade dem Sieger am ehesten ansteht, wurde ihm gegenüber lange vernachlässigt. Die Leistungen, die es übernehmen musste, waren übermenschlich und wären niemals von dem Volke ertragen worden, wenn nicht der Gedanke der Staatsraison in ihm jahrhundertaltes Erbteil gewesen wäre. Der Geschichtsforscher sieht heute noch den Ausgang des Krieges für Deutschland vielfach nur in verlorenen Gebietsteilen, verlorener praktischer Kolonialbetätigung, verlorenem Staats- und Volksvermögen. Er übersieht vielfach den schwersten Verlust, den Deutschland mit erlitten hat. Dieser schwerste Verlust bestand meiner Auffassung nach darin, dass jene geistige und gewerbliche Mittelschicht, die traditionsgemäss Trägerin des Staatsgedankens war, ihre völlige Hingabe an den Staat im Kriege mit der völligen Aufgabe ihres Vermögens bezahlte und proletarisiert wurde. Wie weit die Staatsraison dazu befugt war, dieses Opfer von einer ganzen Generation zu fordern, dieses Opfer, das darin bestand, dass das vom Staate ausgegebene Geld wertlos und nicht wieder ersetzt wurde, darüber ist der Streit der Geister und vielleicht auch die Praxis der Gesetzgebung bis heute nicht zum Abschluss gekommen. Aber alles, was in Deutschland in der Zeit nach dem Kriege vorgegangen ist, muss auch nach dem Gesichtspunkte dieser Stimmung einer völlig entwurzelten Schicht angesehen werden. Zu dieser Schicht gehörte nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages das Offizierkorps der alten Armee, gehörte auch derjenige Teil der heranwachsenden Generation, der im alten Deutschland vielfach nur die Arbeit im Offizier- und Beamtenkorps gekannt hatte. Hier handelt es sich um eine wirtschaftliche Entwurzelung. Zu denen aber, die geistig und politisch plötzlich in ihrem Denken und Empfinden ohne feste Basis dastanden, gehörten alle diejenigen, denen das halbtausendjährige Bestehen einer Monarchie fest in Herz und Hirn geschmiedet war. Sie alle hatten im Weltkrieg das Auf und Ab durchgemacht, aber den tiefen Fall hatte niemand erwartet. Sie wollten nicht mit den Alten brechen, weil sie sich in das, was vorgegangen war, nicht hineinzufinden wussten. Dazu kam, wie vielfach in der Geschichte, der Übereifer der Neuerer, die das Neue zu stark herausstellten, statt das Alte mit dem Neuen gewissermassen zu verbinden.

Getreten und gedemütigt, Bettler, die einst die Führenden waren, wandte sich diese Schicht Deutschlands in der schärfsten Kritik, die aus ihrem Lebens pessimismus zu verstehen ist, gegen ungerechtfertigte Angriffe von aussen, gegen eine Verachtung des Traditionellen im Innern. Weiter hatte die Ent wicklung nach diesem Sturz der bis dahin führenden Schicht – damit meine ich nicht etwa den Adel und das Grossgrundbesitzertum, sondern den Mittelstand, der sein in einer Lebensarbeit erworbenes Vermögen verrinnen sah und die nackte Existenz wieder gründen musste – die starke Erschütterung der ganzen Gesellschaftsform des alten Deutschland zur Folge. Dann kam eine weitere politische Erschütterung: der Ruhrkrieg. Noch einmal brauste das Gefühl der Vergewaltigung in äusserstem Widerstand auf. Aber es begann doch schon zu differenzieren zwischen denen, von denen es glaubte, dass sie den Kampf gegen Deutschland weiterführen wollten, und denen, die seine rechtliche Basis schon damals nicht für gegeben hielten. Es kamen aus den Vereinigten Staaten von Amerika Stimmen, die erkennen Hessen, dass Amerika ein friedliches und einiges Europa als Basis für eine Zusammenarbeit und ein Zusammenwirken wünschte. Es kam die Konferenz in London über den Dawes-Plan. An die Stelle der Wirtschaftler und der Bankengruppen traten die Staatsmänner und von MacDonald kamen damals, als er Downing Street verliess, die Worte, in seinen Ohren klinge das alte schottische Lied: »Should old acquaintance be forgot?»

Das verwundete deutsche Volk sah zum ersten Male seine Vertreter nicht als Objekt der Gesetzgebung anderer, sondern in einer gemeinsamen Verhandlung mit ihnen, es vernahm aus dem Munde Herriots die Zusicherung der Ruhrräumung. In dem heftigen Kampf zwischen dem Pessimismus, der an die Änderung der Weltpsyche nicht glaubte, und denen, die bewusst einen anderen Weg beschritten, siegten die letzteren. Ihnen zur Seite stand neben den nicht Zahlreichen, die den Weg von Anfang an mit gingen, die Arbeiterklasse, die, nicht weniger national als irgendeine andere Gruppe in Deutschland, alte Verbindungen wieder angeknüpft hatte und in ihren politischen und gewerkschaftlichen Kameraden Helfer zu finden hoffte in ihrem Ideal des Zusammenwirkens der Völker.

An die Spitze der französischen Aussenpolitik trat Briand, der Nachfolger Herriots, der die Zusicherung der Ruhrräumung einlöste. Es kam mit der deutschen Initiative des Memorandums vom 9. Februar 1925 die Inauguration der Politik von Locarno. Es wäre eine Unwahrheit, zu sagen, dass diese Politik vom ersten Augenblick an freudige und herzliche Zustimmung gefunden hätte. Misstrauen draussen verhinderte die schnelle Beantwortung des deutschen Schrittes. Missdeutung im Innern trat ihr entgegen, die schwächliche Resignation da sah, wo in Wirklichkeit eine aktive Politik einsetzte, die man glaubte als eine Verzichtspolitik bezeichnen zu können. Neue Fragen warf die Gegenseite in die Debatte, um Deutschlands Wunsch nach Frieden zu erproben. Der Eintritt in den Völkerbund wurde als Voraussetzung geschaffen für die Bekräftigung der Locarno-Verträge. Welche Wendung sprach sich darin aus! Einst hatte Deutschland 1919 den Eintritt in den Völkerbund erstrebt und war von kurzsichtigen und einsichtslosen Leuten in diesem Wunsche zurückgewiesen worden. Jetzt wünschte man seinen Eintritt. Der Völkerbund, begründet als Bund der Sieger, strebte nach der Mitarbeit und Versöhnung mit seinen mächtigsten Gegnern aus dem Weltkrieg. Auch hier galt es, starke Empfindlichkeit zu überbrücken. Denn nicht immer war, nach Auffassung Deutschlands, das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Bestimmungen des Völkerbundes zum Siege gekommen in seinen Beschlüssen über das Schicksal einst deutscher Länder. Dann kam im Auf und Ab zwischen Misstrauen und Vertrauen die Verständigung über die Verträge. Dann kamen falsche Taktik und falsche Empfindlichkeit, die noch einmal im März 1926 Deutschlands Eintritt in den Völkerbund unmöglich machten. Damals aber kamen auch die Worte der bekannten Entschliessung der einstigen Alliierten, dass sie auch ohne die offizielle Aufnahme Deutschlands so handeln würden, als wenn Deutschland dem Völkerbund angehörte.

Im September geschah Deutschlands Eintritt in den Völkerbund, bei dem Herr Briand in einer Rede, die in allen Erdteilen gehört wurde, davon sprach, dass die Zeit der Kanonen und Mitrailleusen vorbei sein müsse, und in der er die Worte sprach, die über diesem Jahrhundert stehen sollten, dass die beiden grossen Völker, Deutsche und Franzosen, so viel Lorbeeren im Kriege auf den Schlachtfeldern gegenseitig errungen hätten, dass die Zukunft sie nur sehen sollte im Wettbewerb um die grossen idealen Ziele der Menschheit.

Wer diese Stunden in Genf erlebt hat, der wird sie in seinem Leben nicht vergessen.

Nicht immer folgen in der Geschichte der Völker den Worten sogleich die Taten. Die Geschichte misst mit anderen Massstäben der Zeit als das Leben des einzelnen Menschen. Der Mensch ist zu leicht geneigt, seinen eigenen Massstab an die Entwicklung der Geschichte zu legen. Die Zeiten, die seitdem gekommen sind, zeigten Wellenberge und tiefe Täler, zeigten keimendes Vertrauen, auf das der Schnee des Misstrauens und der Kriegspsychose folgte, zeigen gegenwärtig mehr eine Vertrauenskrisis in die ganze Entwicklung des Friedens als eine einmütige Bejahung von allen Völkern der Erde.

Das waren die Vorgänge, die sich draussen ausserhalb in diesem ersten Versuche des Sichwiederfühlens, des Sichwiederzusammenlebens zwischen den einstigen Gegnern zeigten. Diese Entwicklung ist nicht eine geradlinige gewesen. Ich habe ausdrücklich Wert darauf gelegt, sie nicht mit irgendeiner Retusche zu versehen, sondern den Niederbruch und das Auf und Ab im Kampfe zu zeigen. Denn nichts scheint falscher in der Geschichtsforschung und -erzählung der einzelnen Völker, als wenn der heranwachsenden Jugend das, was an Grossem geschieht, so dargestellt wird, dass man meinen müsste, es hat sich von selbst ergeben. Es ist nichts falscher, als das Ergebnis gleich hinter den Anfang zu stellen, als ob es etwas anderes nicht geben könnte. Nur der Kampf bringt den Menschen vorwärts. Das Leben des einzelnen Menschen ist ein ständiger Kampf mit Irrtümern und Hindernissen. Nie ist ein Sieg schöner zu empfinden, als wenn vorher Kampf gewesen und Entwicklung. Das Leben des Menschen ist kein geebnetes Parkett, auf dem der einzelne ohne Kampf vorwärtskommen kann, wie es ihm gefällt. Es ist falsch, im Pessimismus zu vergehen, weil eine kleine Zahl von Jahren nicht die Erfüllung des Ideals gebracht. Eine vollkommene Erfüllung des Ideals wäre ja das Aufhören des eigentlichen Lebensdranges. Denn das Menschenleben hätte keine Bedeutung mehr, wenn ihm nicht übrig bliebe, etwas zu tun, um dem zuzustreben, was dem einzelnen Menschen vor Augen steht. Deshalb will ich mit dieser Darstellung der Schwierigkeiten nicht dem Pessimismus das Wort reden, sondern ich will mich an alle diejenigen wenden, die da fragen, warum wir nicht weiter sind, will ihnen zeigen, dass man in einer solchen Zeit auch noch nicht erwarten kann, dass auf allen Seiten Misstrauen und alte Auffassungen wie mit einem Schlage einer neuen Erleuchtung weichen.

Da diese Entwicklung nicht eine geradlinige war, weil der hochgestei gerten Hoffnung die Enttäuschungen folgten, war auch die Geistesentwicklung Deutschlands nicht eine gerade Linie. Ein Volk des Individualismus, wie das deutsche, lässt sein Fühlen und Empfinden nicht ohne weiteres auf einen gleichen Nenner bringen. Und doch kann heute gesagt werden, und die letzten Reichstagsdebatten haben es bewiesen, dass in dem Willen nach Frieden und Verständigung die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes sich einig ist.

Dabei sehe ich ab von dem Extrem der Empfindung links und rechts. Ein Volk, das durchgemacht hat, was das deutsche Volk durchgemacht hatte, bietet naturgemäss einen Nährboden für die Extreme. Die beste Mittelladung des deutschen Schiffes, die es vor harten Schwankungen bewahrte, die unendlich wertvolle staatsbürgerliche Mittelschicht der Vergangenheit, ist nicht mehr vorhanden. Die entwurzelten Existenzen sehen ihr Heil in einer völligen Umkehrung der Dinge. Die grosse Welle des Bolschewismus brandete gerade auch an der deutschen Mauer. In ihren Abzweigungen zeigt sie den Bolschewismus links und den Nationalbolschewismus nach rechts. Wenn ein Volk, dessen Währung so zusammenbrach, dessen Umschichtung so gewaltsam war wie die unserige, das sich in völlig neue Entwicklungen in kurzer Zeit einleben müsste, dieses Bolschewismus nach beiden Seiten Herr geworden ist, so zeigt dies gerade das Gesunde seines Geistes und Arbeitswillens, den Sieg des Realpolitischen über das Imaginäre und über den Illusionismus.

Ein deutscher Staatsmann der Nachkriegszeit hat davon gesprochen, dass das napoleonische Wort, die Politik sei unser Schicksal, heute nicht mehr bestehe. Er hat geglaubt, davon sprechen zu können, dass heute die Wirtschaft unser Schicksal sei. Ich vermag diese Umkehrung nicht anzuerkennen. Aber anerkennen will ich, dass die Politik der Völker und Nationen kaum jemals von Wirtschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen so beeinflusst worden ist, wie gegenwärtig. Und wenn ich deshalb, nicht weil es das Wichtigste ist, vom Wirtschaftlichen aus beginne, so ist festzustellen, dass der alte Trieb des Deutschen, zu arbeiten und zu schaffen, Eingestürztes wieder aufzubauen, sich in einem kaum noch vollendeten Jahrzehnt im deutschen Volke in guter Weise gezeigt hat. Man hat nicht etwa in manchesterlichem Sinne die Sozialpolitik zum Stoppen gebracht. Man hat sich vor allem in weitgehendem Masse bemüht, die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen zu mindern. Vielleicht sind manche Entwicklungen stärkster Arbeitsintensität durch diese weitgehende soziale Fürsorge des Staates zeitweilig sogar zurückgedrängt worden. Aber in ihrer Gesamtheit zeigt diese Politik den richtigen Weg. Man hat im neuen Deutschland die Arbeiterklasse, gleichgültig welche politische Vertretung sie sich gab, an das Reich und den Staat gebunden. Gegenüber aller Kritik, die vielfach sich geknüpft hat an den angeblich überwiegenden Einfluss dieser Schichten, möchte ich doch das eine feststellen, dass die dadurch bewirkte Bindung der ganzen Nation an den Staat ein Ergebnis ist, das weit höher zu werten ist als die Unzulänglichkeit oder Einseitigkeit der Gesetzgebung. Ein ganzes Volk steht heute in der Verantwortlichkeit hinter dem Staat und seiner Zukunft. In allen Städten und Gemeinden ist die grundsätzliche Opposition und Negation gebunden worden und an Stelle einer Zeit vor Jahrhunderten, da der König mit Recht sagen konnte, er sei der erste Diener des Staates, hat die Gegenwart alle Schichten des Volkes als Diener des Staates vorgesehen.

Keine Änderungen der Parteikonstellation können an diesem Gesamt willen, keine Schicht von der Mitarbeit und Verantwortung am Staate aus zuschliessen, irgend etwas ändern. Das gab eine starke Mauer gegenüber dem Extrem, gab die Gemeinschaft der Idee zum Wiederaufbau des Staates, die Grundlage der Konsolidierung wie der Erhaltung der Reichseinheit. Deutschland war einig in dem Willen seines ganzen Volkes, diese Einheit zu bewahren gegen den grössten Ansturm von innen und aussen. Es war im Unglück stärker als im Glück.

Dieser Gebundenheit der einst prinzipiell staatsfeindlichen Schichten stand in den ersten Jahren, unterstützt von der Nichtrücksichtnahme auf wichtige Imponderabilien der Volksseele, die Abneigung weiter intellektueller und mächtiger produzierender Schichten gegen das neue Staatsleben gegenüber. Diese Negierung, Abneigung und Feindschaft ist heute auf wenige rechts radikale Kreise beschränkt. Der Heranziehung derjenigen, die einst in alten Zeiten den Staat negierten, folgte die Heranziehung derjenigen Schichten, die zuerst glaubten, den neuen Staat und die neue Staatsform ablehnen zu müssen. Auch hier vermögen Tagesereignisse und Tagespolitik nichts an der geschichtlichen Tatsache zu ändern, dass hier eine gemeinsame Arbeit an dem Ganzen erreicht ist, die ich kennzeichnen möchte an der einen Tatsache, dass in dem industriellsten Lande Deutschlands, in dem Land, in dem die Sozialdemokratie auf die längste Tradition zurücksehen kann, in dem früheren Königreich, dem heutigen Freistaat Sachsen, ein Ministerium die Geschäfte führt, in dem Sozialisten mit Deutschnationalen gemeinsam arbeiten. Der Drang zur Sachlichkeit wird auf die Dauer stärker sein als aller Parteiwille. Die Verschiedenheit der Auffassungen ist ja heute gar nicht mehr gekennzeichnet durch die Grenzen der Parteien und Fraktionen, sondern geht mitten hindurch durch die einzelnen Parteien. Schliesslich siegte über alle Verschiedenheit der Anschauungen der Gedanke, dass alle Hände notwendig waren zum Aufbau, und dass die Söhne und Enkel, die einst rückblicken werden auf diese Zeit, die Palme der Anerkennung nur denen reichen werden, die in dieser schweren Zeit nicht beiseite standen, sondern Hand mitanlegten, um das zusammengestürzte Haus wieder aufzubauen.

Gewiss, der Streit um Altes und Neues ist noch nicht ausgefochten. Wie sollte das auch in einem Jahrzehnt möglich sein!

Aber gegen über der Idee und der Kampfstellung »Altes oder neues Deutschland» fand sich die Synthese des Alten mit dem Neuen. Niemand in Deutschland kämpft für die Wiederherstellung dessen, was war. Seine Schwächen und Fehler liegen zutage. Aber was weite Schichten fordern als Anerkennung im neuen Deutschland, das ist die Achtung vor dem, was gross und ehrwürdig in dem alten gewesen ist. Alle Entwicklung knüpft an an Persönlichkeiten, die ihr Sinnbild sind. Die Persönlichkeit, die die Synthese des Alten und Neuen in sich vollzieht, erscheint dem deutschen Volk in der Gestalt seines Reichspräsidenten, der dem Manne gefolgt ist, der als erster Präsident des Deutschen Reiches, hervorgegangen aus der grundsätzlichen Opposition, mit grossem Takt und politischer Weisheit und mit Vaterlandsliebe den Weg vom drohenden Chaos zur Konstitution, von der Konstitution zum Wiederaufbau geebnet hat. In dem vom Volke gewählten Reichspräsidenten v. Hindenburg sieht das Volk in grosser Einigkeit weit über Parteien hinweg die Persönlichkeit, die es deshalb so hoch achtet, schätzt und liebt, weil sie, aufgewachsen in den Traditionen des alten Kaiserreichs, die Pflichten gegenüber der jungen Republik in schwerster und das Herz am meisten angreifender Zeit erfüllte. Und deshalb ist in der Persönlichkeit des Reichspräsidenten die Idee der Volksgemeinschaft verkörpert. Das wird dazu führen, dass demnächst an seinem achtzigsten Geburtstage sich alles zusammenfinden wird, um an diesem Tage zu zeigen, dass der Begriff Deutschland der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes höher steht als der Begriff einzelner Parteien und der Weltanschauungskämpfe.

Man ist gewiss nur schwer und zögernd zu dieser Auffassung der Bekundung der Treue zum neuen Deutschland gekommen. Aber mit jedem Tage sind die Reihen derer stärker geworden, die sich hier zusammenfanden. Und nicht, was im Überschwang der Änderung von heute auf morgen, sondern was im harten Ringen und Gegenspiel der Seele wurde, gibt Gewähr für seinen Bestand. Man kann nicht kommen und sagen wie der Bischof zu dem merowingischen König: »Beuge dein Haupt in Demut, stolzer Sigambrer, bete an, was du verbrannt hast, und verbrenne, was du angebetet; hast». Solche Entwicklungsprozesse gehen nicht von heute auf morgen, sondern sie müssen durchgekämpft werden in der Seele. Und wer nach hartem Kampfe sich dazu bereit findet, nunmehr um des Vaterlandes willen mit Liebe und Treue dem deutschen Volke zu dienen und für das heutige Deutschland zu kämpfen, der ist für diesen Bestand viel wichtiger als manche, bei denen diese Entwicklung nur kurze Zeit gebraucht hat.

An die Stelle des Kampfes gegen die neue Staatsform, an die Stelle träumender Resignation, die allein in die Schönheit vergangener Zeiten sich versenkte, ist der Gedanke aktiver Mitarbeit getreten. Deshalb hat mit diesem republikanischen Deutschland nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft zu rechnen.

Aber die Staatsform ist nicht das Entscheidende im Leben der Völker, sie hat nichts zu tun mit dem Gedanken des Sozialismus oder des Nationalismus. Ja, man kann sogar fragen, ob nicht beispielsweise auf wirtschaftlichem Gebiete die Herrschaft der Parteien dem Kapitalismus mehr Einfluss öffnet, als es andere Regierungsformen getan haben. In Deutschland ist die Wirtschaft gerade durch ihre Bindungen, durch die ganze Gestaltung, die Europa gewonnen hat, die erste mit gewesen, die nach dem Kriege den Weg über die Grenzen, den Weg internationaler Verflechtung gefunden hat. Ich sehe die Entwicklung zur Konzernbildung, die sich überall in der Welt vollzieht, an sich nicht als einen Fortschritt für die Völker und Menschen an. Ich bedaure es, dass hiermit immer weiter die Zahl der selbständigen Persönlichkeiten abnimmt, die mit eigenem Risiko für das Haus, das ihren Namen trägt, einstehen. Das, was einst die Wirtschaft in die Höhe brachte, war die Einzelpersönlichkeit.

Es hat aber keinen Sinn, über Vergangenes theoretisch zu klagen. Die Entwicklung war gegeben durch alles, was mit dem Weltkriege zusammenhing. Dieser Weltkrieg hat Europa aus seiner bisherigen Stellung herausgerissen und zu einem aus vielen Wunden blutenden Erdteil gemacht, der nicht nur in Deutschland wertvolle Schichten der Bevölkerung verarmt sieht. »Wo das Eisen wächst in der Berge Schacht, da entspringen der Erde Gebieter.» Europa ist nicht mehr der Erdteil, in dessen Boden die Haupt rohstoffe der Welt ruhen, so wenig, wie wir uns einbilden können, dass Europa in der Welt führend ist. Deshalb rücken die Völker Europas zu sammen, um sich zu schützen vor Überwältigung und Überflutung. Und soweit Wirtschaft auf Politik einwirkt, ist dieses Aneinanderrücken, mag es auch wirtschaftlich bedenklich sein, doch ein Fortschritt für das Verständnis der Völker und für den Frieden. Mag das Psychologische dieser Milliarden unternehmungen auch den Soziologen zu manchen Bedenken Veranlassung geben, so ist es doch ein Aktivum für das gegenseitige Verständnis der Völker.

Damit komme ich zu den geistig-politischen Strömungen im heutigen Deutschland.

Man hält diesem Deutschland vor, dass sich in ihm Hunderttausende zusammenfinden in Organisationen, die die Erinnerung an die Kriegserlebnisse lebendig halten, die vom Frontsoldatentum sprechen, vom Frontgeist und von ähnlichen Dingen. Ich möchte aber an alle die Frage richten: Kann das psychologisch anders sein? Ich war im Kriege nicht an der Front, aber wenn ich es gewesen wäre, dann wäre das wohl das Grösste und Eindrucksvollste, was das Leben eines Menschen in sich aufzunehmen vermag. Diese Hingabe des einzelnen Ich an die Staatsidee, dieses Aufsspielsetzen des Lebens, diese Anspannung aller Triebkräfte, all diese Erinnerungen mit Gleichgesinnten zu besprechen, in welchem Lande der Welt geschieht es nicht? Wir haben keinen Lethestrom der Gegenwart, der den Menschen das Bild nimmt, das in ihrer Erinnerung lebt, und dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, zu vergessen, was vor seinen Augen steht.

Ebenso wie in Deutschland, lesen wir, dass in Frankreich die anciens combattants zusammenkommen. Ist es nicht für Herrn Briand eine Freude, wenn diese anciens combattants ihn rufen, um seine Ansichten zu hören, wenn er mit ihnen sprechen kann, er sich mit ihnen eins fühlt? Ich habe die Rede des Herrn Briand gelesen, die er vor den Kriegern, die im Orient gestanden haben, gehalten hat und in der er davon sprach, dass einer der drei glücklichsten Momente seines Lebens der gewesen, als er die Nachricht erhalten hatte, dass Verdun von den Deutschen nicht erobert sei. Warum will man es da einem Deutschen verdenken, dass er ebenso zu den glücklichsten Augenblicken seines Lebens die Stunde zählt, in der ihm die Kunde von der Schlacht von Tannenberg ward, von der Bewahrung deutschen Bodens vor dem Ansturm der Gegner? Ich wende mich an Herrn Briand selbst, erinnere an seine Worte in Genf, als er von den grossen Taten beider Völker im Ringen gegeneinander in mächtigen Zeiten der Vergangenheit sprach, von Taten, die so gross waren, dass sie keiner neuen Taten mehr bedürfen. Ich bin so sicher wie Herr Briand, dass gerade diejenigen, die den Weltkrieg an der Front mitgemacht haben, in all seiner Grosse und in all seinem Grauen, die Träger einer neuen Zukunft des Friedens sein werden. Darüber können irgendwelche Reden einzelner nicht hinwegtäuschen.

Nur sei man auch, wenn man von der Geistesverfassung Deutschlands redet, nicht ungerecht. Frankreich erklärt in allen Reden seiner Staatsmänner, dass es das Frankreich des Friedens ist, das Land, das den Frieden ansieht als das grosse Ideal aller Menschen. Und dieses Frankreich hat seinen Arc de triomphe, ehrt in einem wundervollen Denkmal die Erinnerung an Napoleon I. Warum erregt man sich dann, dass an Friedrichs des Grossen Denkmal in Deutschland Kränze niedergelegt werden, und dass wir uns erbauen an dem, was deutsche Heimatliebe in der Verteidigung von Haus und Hof, von Frau und Kind einst erlebte auf dem blutgetränkten Boden Deutschlands, der mehr als irgendein anderer vom Kriege zerstampft wurde? In jedem Lande lebt die Erinnerung an die Zurückwerfung derjenigen, die das Land zu erobern suchten. Man singt hier in Norwegen von dem Tode des mächtigen Mannes, der zu rütteln versuchte an der Unabhängigkeit dieses Landes. In jedem Menschen lebt die Erinnerung an Kämpfe und Grossen der Vergangenheit. Diese Erinnerungen sind nicht unvereinbar mit der Liebe zum Frieden für die Zukunft. Genau so wie ein Mensch Ruhe und Ausruhen dann am meisten empfindet, wenn er sein Leben durch Stürme und Kämpfe geführt hat. Nur dann findet man das Meer ruhig, wenn es vordem vom Sturm durchwühlt war. Wir wollen uns nicht darüber täuschen, dass die Erde kein Paradies ist. Was wir wollen, ist der feste Wunsch, dass die Zukunft eine andere, eine neue Aera bringen müsse, auf gebaut auf den Idealen, die aus dem Blute der Kämpfe erwachsen sind. Wo sollte diese Erkenntnis stärker sein als in Europa, und in Europa in den Ländern, die am meisten unter dem Kriege gelitten haben?

Es war ein Wendepunkt europäischer Entwicklung, als von deutscher Seite die Politik inauguriert wurde, die über Locarno nach Genf führte. Lesen Sie, was Herr Briand über die Bedeutung dieses Entschlusses Deutschlands gesagt hat. Deutschland hat auf diesem Wege manche und schwere Enttäuschungen erlebt. Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen darauf einzugehen. Ich sehe auch Locarno nicht lediglich an unter dem Gesichtspunkt der Auswirkung für Deutschland allein. Für mich ist Locarno viel mehr. Es ist einmal der Zustand des dauernden Friedens am Rhein, gewährleistet durch feierlichen Verzicht der beiden grossen Nachbarnationen auf Anwendung von Gewalt, gewährleistet durch die Verpflichtung anderer Staaten, demjenigen ihre Macht zu leihen, der entgegen dieser feierlichen Vereinbarung Opfer der Gewalt wird. Das ist die treuga dei, das ist der Gottesfriede, der dort herrschen soll, wo seit Jahrhunderten immer wieder die Völker blutige Kriege geführt haben. Er kann, er soll weiter die Unterlage sein für ein gemeinsames Zusammenwirken dieser Mächte, um den Frieden weiter zu verbreiten, wohin immer ihre moralische und materielle Macht und ihr Einfluss reicht. Für diesen Gedanken steht heute die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes ein. Hierfür ist heute auch die deutsche Jugend zu gewinnen, die in der Ausbildung der Einzelpersönlichkeit an Geist und Körper, im friedlichen Wettstreit olympischer Spiele und, wie ich hoffe, in geistiger und technischer Entwicklung ihr Ideal sieht.

Die für diese Ideen kämpfen, können aber auf die Dauer nicht Sieger bleiben in diesem Kampfe, wenn auf dem Boden eines Landes, das als das unterlegene Land trotzdem der Revanche absagt und dem Frieden sich bietet, auf Jahre hinaus fremde Bajonette stehen sollen. Die Politik von Locarno ist unvereinbar mit der Politik des Misstrauens, der Gewalt, der Unterdrückung. Sie ist die Politik der Verständigung und des freien Willens. Sie ist die Politik des Glaubens an eine neue Zukunft und sollte gegenüber der Politik der Vergangenheit Politik der Zukunft sein. Deutschland sieht dieser Zukunft entgegen, konsolidiert in seinem Staatswesen durch letzte Arbeitsenergien, im grossen und ganzen konsolidiert in seiner Wirt schaft, die auf dem beengten Raume wachsenden Millionen Leben und Sicherheit geben soll, konsolidiert in seinen Ideen, die entsprechend der Einstellung von Kant und Fichte dem Frieden zustreben.

Verstehe ich Sie recht, dann war es Ihr Volk – ein Volk, das, in mehr als hundertjährigem Frieden lebend, diese Ideen bekräftigen wollte durch die Entscheidung des Nobelkomitees – das den Männern von Locarno den Preis zuerkannte für ihr Streben. Sie sind damit den grossen Ideen Ihres Landes treu geblieben. Sie haben Ihre grosse friedliche Entwicklung benutzt zu schaffender weitsichtiger Arbeit auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft und Forschung. Sie haben Männer entsandt nach fernen Erdzonen, die im faustischen Streben die menschliche Erkenntnis erweitern wollten bis zum Letzten der Dinge. Sie haben Ihr mitfühlendes Herz geöffnet den Nationen, die unter der Nachkriegszeit litten, den von ihrem Urboden verjagten Völkern, die Opfer des Krieges und seiner Folgen wurden So verbanden sich bei Ihnen Heimatliebe und Menschheitsstreben, nationaler Stolz mit internationalem Wirken.

Ich freue mich, in der Hauptstadt Ihres Landes heute den Dank aussprechen zu dürfen für diese Ehrung, die Sie uns erwiesen haben. Ich verbinde mit diesem Danke die Hoffnung, dass die Ideen, die Ihrer Ehrung zugrunde lagen, Gemeingut werden möchten der ringenden Nationen der Gegenwart. Möge in diesem Sinne wahr werden, was der grosse Deutsche, der wohl am meisten über die Grenzen hinaus auf die Völker wirkte, von seiner Zeit sagte: Wir bekennen uns zu dem Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt.

From Les Prix Nobel en 1926, Editor Carl Gustaf Santesson, [Nobel Foundation], Stockholm, 1927

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