Imre Kertész – Banquet speech

Imre Kertész delivering his banquet speech.

Imre Kertész delivering his banquet speech. Copyright © Nobel Media AB 2002
Photo: Hans Mehlin

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Imre Kertész’s speech at the Nobel Banquet, 10 December 2002

Wir erleben heute eine Globalisierung, ja eine Inflation des Holocaust. Der Holocaust-Überlebende, der Auschwitz aus lebendiger Erfahrung kennt, beobachtet das alles aus der ihm zugewiesenen Ecke. Er schweigt, oder er gibt der Spielberg-Stiftung Interviews, er empfängt die ihm mit fünfzigjähriger Verspätung zugesprochene Entschädigung, der Prominentere hält hier und dort eine Rede. Und er stellt sich die Frage: Was hinterläßt er, was für ein geistiges Erbe? Hat er das menschliche Wissen mit seiner Leidensgeschichte bereichert? Oder nur Zeugnis abgelegt von der unvorstellbaren Erniedrigung des Menschen, in der keine Lehre steckt und die man besser möglichst rasch vergißt?

Ich selbst meine das nicht. Ich bin unverändert der Meinung, der Holocaust ist ein Trauma der europäischen Zivilisation, und es wird zu einer Existenzfrage für diese Zivilisation werden, ob dieses Trauma in Form von Kultur oder Neurose, in konstruktiver oder destruktiver Form in den Gesellschaften Europas weiterlebt.

Doch wird das eine Entscheidung der Zukunft sein, die ich jetzt kaum noch beeinflussen kann. Ich habe mich – und vielleicht ist das keine schiere Selbsttäuschung – bemüht, die existentielle Arbeit zu verrichten, die mir das Überleben von Auschwitz gewissermaßen als Pflicht auferlegt hat. Ich weiß, was für ein Privileg mir zuteil geworden ist. Ich habe das wahre Antlitz dieses schrecklichen Jahrhunderts gesehen, habe ins Auge des Gorgonenhauptes geblickt und konnte lebend weitergehen. Doch ich wußte, daß ich mich von diesem Anblick niemals befreien werde, ich wußte, daß dieses Antlitz mich für immer gefangenhält. „Im Laufe der Jahrzehnte und der Reihe nach verwarf ich die irreführenden Schlagworte einer irreführenden Freiheit”, notierte ich in meinem „Galeerentagebuch”, „wie ‚unerklärbarer historischer Irrtum’, ‚nicht zu rationalisieren’ und ähnliche Tautologien; Gesten des Darüberstehens; ich bin nicht in die Versuchung des Selbstmitleids gekommen, mag sein, auch nicht in die wahrer Erhabenheit, göttlicher Hellsicht; aber ich wußte bereits, daß meine Schande nicht nur Schmach, sondern auch Erlösung birgt, wenn mein Herz mutig genug sein würde, diese Erlösung: diese sicher besonders grausame Form der Gnade anzunehmen, ja, in dieser grausamen Form überhaupt die Gnade zu erkennen.”

Und wenn Sie jetzt fragen, was mich heute noch hier auf Erden hält, was mich am Leben hält, antworte ich, ohne zu zögern: die Liebe.

Copyright © The Nobel Foundation 2002

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MLA style: Imre Kertész – Banquet speech. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Sun. 22 Dec 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2002/kertesz/25366-banquet-speech-german/>

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