Interview with Elfriede Jelinek, November 2004

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Interview with Elfriede Jelinek by freelance journalist Marika Griehsel in November, 2004.

Marika Griehsel: Warum schreiben Sie? Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?

Elfriede Jelinek: Wie man es von den meisten Schriftstellern sagt: Einerseits habe ich schon als Kind immer nur gelesen und war eine Einzelgängerin, was durch meine Eltern und meine Erziehung sehr gefördert wurde, andrerseits habe ich diesen berühmten Bruch zwischen mir und der Welt gespürt, je mehr ich gelesen habe. Das geschieht schon sehr früh, und dann habe ich offenbar versucht, diesen Bruch durch etwas zu schließen, das mir zugänglich war, und das war nur das Schreiben. Inspiriert wurde ich vor allem in den fünfziger Jahren durch die Wiener Dichtergruppe, die mir gezeigt hat, daß man, was man sagen will, die Sprache selbst sagen lassen muß, die meist aussagekräftiger ist als der bloße Inhalt, den man transportieren will. Meine Ausbildung in Musik und der Komposition hat mich dann zu einer Art musikalischen Sprachverfahrens geführt, bei dem zum Beispiel der Klang der Wörter, mit denen ich spiele, deren eigentliche Bedeutung sozusagen gegen deren Willen preisgeben muß.

Marika Griehsel: Vor einigen Wochen wurde bekannt gegeben, dass Sie mit dem Nobelpreis für Literatur 2004 ausgezeichnet worden sind. Wird dieser Preis Ihrzukünftiges Schreiben beeinflussen?

Elfriede Jelinek: Ich habe das Gefühl, es wird mein zukünftiges Schreiben insofern beeinflussen, als ich, ohne materielle Sorgen, eine größere Leichtigkeit, auch Leichtherzigkeit beim Schreiben entwickeln könnte. Das wird meinem, wie gesagt eher kompositorischen, Sprachverfahren vielleicht gut tun. Es könnte aus einem größeren Reservoir an Freiheit schöpfen. Die Ironie könnte eine noch größere Leichtigkeit entwickeln.

Marika Griehsel: Welche Rolle spielt das Internet für Sie als Schriftstellerin?

Elfriede Jelinek: Das Internet ist für mich exemplarisch. Ich möchte nicht das Gefühl haben, sozusagen „für die Ewigkeit“ zu schreiben. So hat das Flüchtige des Internets einen großen Reiz für mich bekommen. Ich habe irgendwann einmal eine Rubrik in meiner homepage eingerichtet, die „Notizen“ heißt, und in der ich versuche, ähnlich wie in emails eine Flüchtigkeit des Hingeschriebenen zu finden, die einerseits den aktuellen Ereignissen Rechnung trägt, andrerseits aber nicht wie in Stein gemeißelt ist, sondern eher wie etwas, das man mit dem Finger in feuchten Sand schreibt. Man kann es jederzeit wieder entfernen, während das Buch doch eher ein Objekt ist, das sozusagen „bleibt“, man hat ein Buch in der Hand.

Marika Griehsel: In your opinion what is the most pressing social issue in Western society today?

Elfriede Jelinek: Das ist sehr schwer zu beantworten. Ich glaube, die Vereinzelung ist eines der größten Probleme, die eine politische Solidarisierung immer mehr verhindert. Früher hätte man gesagt: die Ausprägung eines Klassenbewußtseins. Die Verkleinbürgerlichung der Gesellschaft, ihre Hoffnung auf Aufstieg und das Ahnen eines jederzeit möglichen Abstiegs (es gibt ja keine „Lebensstellungen“ wie früher, jeder ist gefährdet, Arbeitsplätze werden immer unsicherer, die Existenz des Einzelnen wird immer prekärer, was aber nicht zur Solidarisierung mit anderen in ähnlicher Lage zu führen scheint) erscheint mir sehr gefährlich. Desolidarisierung macht paradoxerweise anfällig für die Konstruktion von Ersatzkollektiven und Faschismen aller Art.

Marika Griehsel: Als Nobelpreisträgerin können Sie zukünftig Schriftsteller für den Preis vorschlagen. Welche Art der Literatur würden Sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet sehen?

Elfriede Jelinek: Preiswürdig ist für mich eine Literatur, die mit immer neuen sprachlichen und formalen Ausdrucksmöglichkeiten ein Panorama der gesamten Gesellschaft entwirft und diese damit gleichzeitig entlarvt, ihr die Masken vom Gesicht reißt.

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MLA style: Interview with Elfriede Jelinek, November 2004. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Tue. 3 Dec 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2004/jelinek/25227-interview-november-2004-german/>

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