Herta Müller – Banquet speech

Herta Müller delivering her banquet speech.

Herta Müller delivering her banquet speech. Copyright © The Nobel Foundation 2009
Photo: Orasisfoto

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Herta Müller’s speech at the Nobel Banquet, 10 December 2009

Eure Majestäten
Eure Königlichen Hoheiten
Meine Damen und Herren
Liebe Freunde

Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal bis hierher ins Rathaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst.

In die Stadt aufs Gymnasium kam ich nur gegen den Willen meiner Mutter. Sie wollte, daß ich im Dorf Schneiderin werde. Sie wußte, daß ich in der Stadt verdorben werde. Und ich wurde verdorben. Ich fing an, Bücher zu lesen. Das Dorf kam mir immer mehr vor wie eine Kiste, in der man geboren wird, heiratet, stirbt. Alle Dorfleute lebten in einer alten Zeit, wurden schon alt geboren. Man muß das Dorf irgendwann verlassen, wenn man jung werden will, dachte ich. Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt, aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung. Feigheit und Kontrolle – beides war später auch in der Stadt allgegenwärtig. Privat Feigheit bis zur Selbstzerstörung, staatlich Kontrolle bis zur Zerrüttung des Individuums. Es ist vielleicht die kürzeste Form, die Tage in der Diktatur zu beschreiben.

Zum Glück traf ich in der Stadt Freunde, eine Handvoll junge Dichter der „Aktionsgruppe Banal” Ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben. Noch wichtiger ist: Diese Freunde waren lebensnotwendig. Ohne sie hätte ich die Repressalien nicht ausgehalten. Ich denke heute an diese Freunde. Auch an die, die auf dem Friedhof liegen, die der rumänische Geheimdienst auf dem Gewissen hat.

Ich habe viele Menschen zerbrechen sehen. Und ich war selbst am Zerbrechen. Kurz davor konnte ich Rumänien verlassen. Ich hatte schon damals viel Glück – unverdientes Glück, denn Glück kann man sich nicht verdienen. GLÜCKLICHSEIN ist vielleicht teilbar. GLÜCKHABEN leider nicht. Und indem ich hier in Stockholm neben mir stehe, habe ich wieder mal großes Glück. Denn dieser Preis hilft, die geplante Zerstörung von Menschen durch Repression im Gedächtnis derer zu behalten, die sie erlebt haben – und sie denen ins Gedächtnis zu rufen, die sie gottseidank nicht erleben mußten. Denn es gibt bis heute Diktaturen aller Couleur. Manche dauern schon ewig und erschrecken uns gerade wieder aufs Neue, wie der Iran. Andere, wie Rußland und China ziehen sich zivile Mäntelchen an, liberalisieren ihre Wirtschaft – die Menschenrechte sind jedoch noch längst nicht vom Stalinismus oder Maoismus losgelöst. Und es gibt die Halbdemokratien Osteuropas, die das zivile Mäntelchen seit 1989 ständig an – und ausziehen, so daß es schon fast zerrissen ist.

Literatur kann das alles nicht ändern. Aber sie kann – und sei es im Nachhinein – durch Sprache eine Wahrheit erfinden, die zeigt, was in und um uns hemm passiert, wenn die Werte entgleisen.

Literatur spricht mit jedem Menschen einzeln – sie ist Privateigentum, das im Kopf bleibt. Nichts sonst spricht so eindringlich mit uns selbst wie ein Buch. Und erwartet nichts dafür, außer daß wir denken und fühlen.

Ich danke der Schwedischen Akademie und der Nobelstiftung – vielen Dank.

Copyright © The Nobel Foundation 2009

To cite this section
MLA style: Herta Müller – Banquet speech. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Sun. 30 Jun 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2009/muller/25736-banquet-speech-german/>

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