Herta Müller – Prose

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Auszug von Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt

DIE TIEFE STELLE

Um das Kriegerdenkmal stehn Rosen. Sie sind ein Gestrüpp. So verwachsen, daß sie das Gras ersticken. Sie blühn weiß, klein zusammengerollt wie Papier. Sie rascheln. Es dämmert. Bald ist es Tag.

Windisch zählt jeden Morgen, wenn er ganz allein über die Straße in die Mühle fährt, den Tag. Vor dem Kriegerdenkmal zählt er die Jahre. Am ersten Pappelbaum dahinter, wo das Fahrrad immer in dieselbe tiefe Stelle fährt, zählt er die Tage. Und abends, wenn Windisch die Mühle zusperrt, zählt er die Jahre und Tage noch einmal.

Von weitem sieht er die kleinen weißen Rosen, das Kriegerdenkmal und den Pappelbaum. Und wenn Nebel ist, ist das Weiße der Rosen und das Weiße des Steins beim Fahren dicht vor ihm. Windisch fährt hindurch. Windisch hat ein feuchtes Gesicht und fährt, bis er dort ist. Zweimal hat das Rosengestrüpp kahle Dornen gehabt und das Unkraut darunter war rostig. Zweimal war die Pappel so kahl, daß ihr Holz fast zerbrochen wär. Zweimal war Schnee auf den Wegen.

Windisch zählt zwei Jahre vor dem Kriegerdenkmal und zweihunderteinundzwanzig Tage in der tiefen Stelle vor der Pappel.

Jeden Tag, wenn Windisch von der tiefen Stelle gerüttelt wird, denkt er: »Das Ende ist da.« Seit Windisch auswandern will, sieht er überall im Dorf das Ende. Und die stehende Zeit, für die, die bleiben wollen. Und daß der Nachtwächter dableibt, sieht Windisch, über das Ende hinaus.

Und nachdem Windisch zweihunderteinundzwanzig Tage gezählt und die tiefe Stelle ihn gerüttelt hat, steigt er zum ersten Mal ab. Er lehnt das Fahrrad an den Pappelbaum. Seine Schritte sind laut. Aus dem Kirchgarten flattern wilde Tauben. Sie sind grau wie das Licht. Nur der Lärm macht sie anders.

Windisch schlägt das Kreuz. Die Türklinke ist naß. Sie klebt an Windischs Hand. Die Kirchentür ist zugesperrt. Der heilige Antonius steht hinter der Wand. Er trägt eine weiße Lilie und ein braunes Buch. Er ist eingeschlossen.

Windisch friert. Er schaut die Straße runter. Wo sie aufhört, schlagen die Gräser ins Dorf. Am Ende dort geht ein Mann. Der Mann ist ein schwarzer Faden, der in die Pflanzen geht. Das schlagende Gras hebt ihn über die Erde.

DER KÖNIG SCHLÄFT

Vor dem Krieg hatte die Musikkapelle des Dorfes in dunkelroten Uniformen am Bahnhof gestanden. Der Bahnhofsgiebel war vollgehängt mit Girlanden aus Feuerlilien, aus Sommerastern und Akazienlaub. Die Leute hatten ihre Sonntagskleider an. Die Kinder trugen weiße Kniestrümpfe. Sie hielten schwere Blumensträuße vor den Gesichtern.

Als der Zug in den Bahnhof eingefahren war, spielte die Musikkapelle einen Marsch. Die Leute klatschten. Die Kinder warfen ihre Blumen in die Luft.

Der Zug war langsam gefahren. Ein junger Mann streckte seinen langen Arm zum Fenster heraus. Er spreizte die Finger und rief: »Ruhe. Seine Majestät, der König, schläft.«

Als der Zug aus dem Bahnhof hinausgefahren war, kam eine Schar weißer Ziegen von der Weide. Die Ziegen gingen den Schienen entlang und fraßen die Blumensträuße.

Die Musikanten waren nach Hause gegangen mit ihrem abgebrochenen Marsch. Die Männer und Frauen waren nach Hause gegangen mit ihrem abgebrochenen Winken. Die Kinder waren nach Hause gegangen mit leeren Händen.

Ein Mädchen, das dem König, nachdem der Marsch zu Ende war, nachdem das Klatschen zu Ende war, ein Gedicht hätte sagen sollen, saß, bis die Ziegen alle Blumensträuße gefressen hatten, allein im Wartesaal und weinte.

DIE BRENNENDE KUGEL

Die gefleckten Schweine des Nachbarn liegen in den wilden Möhren und schlafen. Die schwarzen Weiber kommen aus der Kirche. Die Sonne glänzt. Sie hebt sie über den Gehsteig in ihren kleinen schwarzen Schuhn. Sie haben mürbe Hände von den Rosenkränzen. Ihr Blick ist noch verklärt vom Beten.

Über das Dach des Kürschners schlägt die Kirchenglocke mitten in den Tag. Die Sonne ist die große Uhr über dem Mittagläuten. Das Hochamt ist zu Ende. Der Himmel ist heiß.

Hinter den kleinen, alten Weibern ist der Gehsteig leer. Windisch schaut den Häusern entlang. Er sieht das Ende der Straße. »Amalie müßte kommen«, denkt er. Im Gras stehen Gänse. Sie sind weiß wie Amalies weiße Sandalen.

Die Träne liegt im Schrank. »Amalie hat sie nicht gefüllt«, denkt Windisch. »Immer, wenn es regnet, ist Amalie nicht zu Haus. Immer ist sie in der Stadt.«

Der Gehsteig bewegt sich im Licht. Die Gänse segeln. Sie haben weiße Tücher in den Flügeln. Amalies schneeweiße Sandalen gehen nicht durchs Dorf.

Die Schranktür knarrt. Die Flasche gluckst. Windisch hält eine nasse brennende Kugel auf der Zunge. Die Kugel rollt ihm durch den Hals. In Windischs Schläfen flackert ein Feuer. Die Kugel löst sich auf. Sie zieht heiße Fäden durch Windischs Stirn. Sie drückt verzackte Rinnen wie Scheitel durch sein Haar.

Die Mütze des Milizmanns dreht sich um den Spiegelrand. Seine Schulterklappen blinken. Die Knöpfe seines blauen Rocks wachsen in die Spiegelmitte. Über dem Rock des Milizmanns steht Windischs Gesicht.

Windischs Gesicht steht einmal groß und überlegen überm Rock. Zweimal lehnt Windischs Gesicht klein und verzagt über den Schulterklappen. Der Milizmann lacht zwischen Windischs Wangen in Windischs großem, überlegenem Gesicht. Er sagt mit nassen Lippen: »Mit deinem Mehl kommst du nicht weit.«

Windisch hebt die Fäuste. Der Rock des Milizmanns zersplittert. Windischs großes, überlegenes Gesicht hat einen Blutfleck. Windisch schlägt die beiden kleinen, verzagten Gesichter über den Schulterklappen tot.

Windischs Frau kehrt stumm den zerbrochenen Spiegel zusammen.

Excerpts from: Herta Müller, Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt
Copyright © Carl Hanser Verlag München 2009
Published by permission of Carl Hanser Verlag

Excerpt selected by the Nobel Library of the Swedish Academy.

To cite this section
MLA style: Herta Müller – Prose. NobelPrize.org. Nobel Prize Outreach AB 2024. Sun. 30 Jun 2024. <https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2009/muller/25744-herta-muller-prose-german/>

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